Rezension

Aufwühlend, aber nicht berührend

Wir sehen uns unter den Linden - Charlotte Roth

Wir sehen uns unter den Linden
von Charlotte Roth

Der Roman „Wir sehen uns unter den Linden“ von Charlotte Roth erzählt die tragische Geschichte der Familie Engel im Ost-Berlin der Nachkriegszeit. Das Buch beginnt im Jahr 1945 mit der brutalen Ermordung von Susannes Vater durch die Nazis und springt dann immer wieder durch verschiedene Zeitebenen zwischen den Jahren 1928 und 1961. So wird immer deutlicher, wie sehr dieses traumatische Erlebnis Susannes Sicht auf die Welt geprägt hat. Im Aufbau der DDR sieht sie den Traum ihres Vaters auf ein besseres Leben verwirklicht. Doch sie verschließt ihre Augen vor den Schattenseiten des Sozialismus und gefährdet damit nicht nur ihr eigenes Glück, sondern auch den Zusammenhalt ihrer Familie.

Diese fiktive Familientragödie spielt vor dem Hintergrund echter deutscher Geschichte. Auf sehr abwechslungsreiche Art und Weise wird das politische Zeitgeschehen des letzten Jahrhunderts zum Leben erweckt. Dieser Handlungsrahmen ist spannend erzählt und gut recherchiert. Leider hatte ich aber einige Schwierigkeiten, den emotionalen Zugang zur Hauptperson Susanne zu finden. Ich konnte mich auch bis zum Schluss nicht mit ihrem Charakter anfreunden, weil sie extrem indoktriniert ist in ihrem Systemdenken. Sie war mir einfach unsympathisch. Vielleicht wäre es mir bei einer chronologischen Erzählung, bei der man ihr beim Erwachsenwerden folgt, leichter gefallen Verständnis für Ihre Weltanschauung aufzubringen.

Trotzdem (oder vielleicht auch deswegen) musste ich nach dem Auslesen des Buchs noch eine ganze Weile über das Geschehen nachdenken. Gab es damals wirklich Menschen, die so tief überzeugt waren von einem politischen System, das aus heutiger Sicht als gescheitert gilt? Und was sagt das aus über die heutigen Beziehungen zwischen „Ossis“ und „Wessis“? Es gibt sicher keine richtige und keine falsche Antwort auf diese Fragen, aber das Nachdenken darüber bleibt wichtig. Diese Geschichte hat mich also nicht so schnell losgelassen und deswegen hat sich das Lesen trotzdem gelohnt.