Rezension

Aufwühlendes Waldepos

Das Flüstern der Bäume - Michael Christie

Das Flüstern der Bäume
von Michael Christie

Bewertet mit 4 Sternen

In diesem Jahr habe ich (unter anderem) ein neues Wort gelernt: Primärwald. Überhaupt steht der Wald seit einiger Zeit wieder stärker im Fokus und das freut mich für ihn, denn offensichtlich setzt das Klima unserem Baumbestand hierzulande arg zu. Für den Primärwald, auch Urwald genannt, ist allerdings der Mensch der schlimmste Feind. Denn wir setzen alles daran, ihn abzuholzen und zu verbrennen und werden uns wohl in den nächsten Jahren auf immer trockenere Sommer einstellen müssen, bis wir die Sandsturmära aus Michael Christies Roman erreicht haben. Ein düsterer Blick in die Zukunft, der mir nach den letzten drei heißen Jahren gar nicht so abwegig erscheint und mir wirklich Angst macht.

Über eine Zeitspanne von 130 Jahren erzählt Christie eine Familiengeschichte, die ganz dicht mit Bäumen verwurzelt ist. Es beginnt 1908 mit einem Zugunglück und endet 2038 mit einer ungewissen, bald gänzlich baumlosen Zukunft. Im Mittelpunkt stehen die Brüder Harris und Everett Greenwood, die ein mächtiges Band verbindet und doch weit voneinander fort hält. Es ist schwer, eine 550seitenstarke, verwickelte, nicht linear erzählte Familiengeschichte in wenigen Sätzen zusammenzufassen und so versuche ich es erst gar nicht. Sehr treffend erscheint mir nach der Lektüre allerdings die Beschreibung des Verlages zum Inhalt des Buches: „Eine Familie ist wie ein Wald. Ein Verbund einzelner Lebewesen, die sich gegenseitig vor Wind und Dürre schützen.“ Und wie immer bei Familiengeschichten macht es mich sprachlos, wie fehlgeleitete Kommunikation und daraus resultierende Unkenntnis vom Inneren des Anderen weitreichende Handlungen und unumkehrbare Entwicklungen nach sich ziehen können. So stark die Familienbande auch sein mögen, letztlich gehen die Figuren einsam ihren Weg und finden allein Trost im Flüstern der Bäume.

Was wirklich anhaltend in mir nachklingt, sind die Beschreibungen einer Plünderung der Weltressourcen, hier der Primärwald Amerikas und Kanadas. Für die Jahre der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheinen wir bis heute einen hohen Preis zu zahlen und sind uns dessen gar nicht bewusst. Wie zynisch erscheint es also, wenn im Buch der letzte nordamerikanische Primärwaldbestand zu einem Wallfahrtsort für reiche Urlauber auf Selbstfindungstrip verkommt. Eine ordinäre Gelddruckmaschine unter dem Deckmantel des Naturschutzes.

„Das Flüstern der Bäume“ ist ein schwieriger Roman. Die Familienstory hat mich in ihrer Gestaltung nicht hundertprozentig überzeugen können, aber gefühlsmäßig in ihrem Waldthema total gepackt. Vor allem die Naturbeschreibungen, die friedvolle Wirkung der Bäume auf den einzelnen Menschen fand ich gelungen, anrührend und aufwühlend. Ein Roman, der mich in seiner Grundbotschaft nachdenklich stimmt und mir in meinem verhältnismäßigen Nichtstun für die Umwelt ein schlechtes Gewissen macht. Los, retten wir die Wälder!