Rezension

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"Aus dem globalen Dorf kann man nicht wegziehen"

ZERO - Sie wissen, was du tust - Marc Elsberg

ZERO - Sie wissen, was du tust
von Marc Elsberg

Was, wenn es zu einem wochenlang andauernden Zusammenbruch des Elektrizitätsnetzes kommt? Mit diesem Schreckensszenario hat sich der österreichische Autor Marc Elsberg in seinem Debutroman "Blackout" beschäftigt.
Was, wenn die Gier nach pivaten Daten großer Konzerne außer Kontrolle gerät? Mögliche Antworten auf diese nicht minder brisante Frage versucht er in seinem neu erschienenen "Zero" zu erkunden.
Nachdem ein Teenager bei der scheinbar unmotivierten Verfolgung eines Straftäters erschossen wird, begibt sich die Journalistin Cynthia Bonsant auf die Suche nach den Ursachen. Dabei stößt sie auf die Online-Plattform Freemee, deren Software (ActApps genannt) durch konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag den Nutzern zu mehr Zufriedenheit und einem erfüllteren Leben verhelfen sollen. Als Grundlage dient eine Vielzahl persönlicher Daten, die von den Anwendern bereitgestellt werden müssen. Bald findet Cynthia heraus, daß der Ermordete nicht der erste Todesfall im Umfeld von Freemee war und gerät damit selbst in große Gefahr.

In wenigen nach den Wochentagen des Handlungszeitraums benannten Kapiteln erzählt der Elsberg seine Geschichte über systematisches Datensammeln, Überwachung und Manipulation. Als Erzähltempus setzt er dabei auf das Präsens, was eine stärkere Verortung in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts bewirkt, als es einem möglicherweise verklärendem Prätertitum möglich wäre. Auch die nur sehr grobe Kapitelstrukturierung kombiniert mit zahlreichen Szenenwechseln unterstützt den Eindruck der Gleichzeitigkeit der Ereignisse und somit der Komplexität der grundlegenden Situation.

Obwohl die Anzahl der Figuren überschaubar ist, verbleiben viele von ihnen nur skizzenhaft, werden nur mit Namen genannt. Dies mag man dem Autor als mangelndes schriftstellerisches Gespür anlasten, verdeutlicht aber auch die Austauschbarkeit der handelnden Personen, kann somit als Stilmittel wirken. Immerhin ist es offensichtlich Marc Elsbergs Anliegen, nicht in erster Linie eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern primär Aufklärung über hochsensible, brandaktuelle Themen zu betreiben. Wenn in diesem Kontext die Protagonisten nur als schwarze Scherenschnittsilhouetten vor einem weißen Hintergrund zu sehen sind, verliehe es der dargestellten Szene kaum an Mehrwert, wären sie in bunten Farben bemalt.

Es liegt in der Natur der gewählten Thematik, daß der Roman die Gegenwart des Lesers umso genauer abbilden kann, je detaillierter die eingesetzte Technologie beschrieben wird. Dabei sind Fachbegriffe und Grundlagenwissen unumgänglich. Der Autor steht also zu Beginn vor der Situation, seine Geschichte in einem hoch komplexen mit Hard- und Software sogar überausgestatteten Umfeld anzusiedeln und dabei seine Leser so weit mit auf die Reise zu nehmen, daß sie nicht nach den ersten Seiten verständnislos das Buch wieder zuklappen. Anders als beispielsweise Daniel Suarez setzt er dieses Wissen jedoch nicht von vornherein beim Leser voraus, sondern wählt eine interessante Erzähltechnik: Mit der Journalistin Cynthia, Mitte Dreißig, erschafft er eine Figur, deren Kenntnisstand jenem des durchschnittlichen Rezipienten entsprechen dürfte und die somit als Identifikationsfigur dient. Stückchenweise taucht sie in das ihr unbekannte Biotop ein, sammelt ihre eigenen Erfahrungen, stellt typische Fragen einer Erstkontaktsituation. Anhand von im Internet veröffentlichten Videos und ganz besonders im Dialog mit ihren technikaffinen Kollegen werden diese Fragen an die aristotelische Methode der Wissensvermittlung erinnernd auf eine Weise beantwortet, die sich nahtlos in die Geschichte einfügt, diese in ihrer Form sogar unterstützt.

Um das Buch jedoch auf dem Kurs eines Romans zu halten und einer aus der Natur der Thematik resultierenden zu starken Versachlichung entgegenzuwirken, wurde das Erzähltopos des fehlgeschlagenen Experiments gewählt, nachdem eine ursprünglich revolutionäre Idee außer Kontrolle gerät und zur Bedrohung wird. Dies erlaubt dem Autor die für einen Roman erforderliche Zuspitzung auf eine konkrete Situation und deren Lösung. Mit aufwendiger Recherche, deren Ergebnisse der Verarbeitung komplexer Sachverhalte zu einer zugleich glaubwürdig-realistischen und spannenden Erzählung dienen, gesellt sich Marc Elsberg somit zu Kollegen wie Michael Crichton, dem Duo Preston/Child oder dem genannten Daniel Suarez.

Wie vielschichtig der von Elsberg gewählte Themenkomplex ist, zeigen die zahlreichen Einschübe, die jeweils einen seiner Aspekte aufgreifen und diskutieren. So kommt etwa die Dialektik um die Privatsphäre zur Sprache: Gibt es so etwas wie ein allgemeines Recht auf einen von außen nicht einsehbaren Bereich? Ist das freimütig vorgetragene Eingeständnis, nichts zu verbergen zu haben, die neue Form der generellen Unschuldsbeteuerung, und setzt man sich umgekehrt mit der Skepsis gegen die Allgegenwart der Überachungskameras automatisch einem Generalverdacht aus? Das Internet sei nur eine aktuelle Ausprägung des Dorfes, in dem zwischen Kirche und Feuerwehrfest jeder jeden kennt, so heißt es an einer Stelle. Aber ist ein solcher Vergleich denn zulässig?

An einer anderen Stelle setzt sich Elsberg mit den Methoden der Manipulation auseinander und greift dabei den Begriff der "Gamification" auf: Dabei wird an den menschlichen Ehrgeiz appelliert, indem für jede beliebige Tätigkeit eine Wettbewerbssituation erzeugt wird. Beispielsweise könnten "intelligente Zahnbürsten" zu einer Zahnputzrangliste innerhalb einer Familie oder dem Freundeskreis führen. "Es soll die Motivation der angesprochenen Personen erhöhen, üblicherweise als langweilig oder eintönig empfundene Tätigkeiten mit Freude zu absolvieren", heißt es dazu im Anhang des Buches, der Fachbegriffe aufgreift und gesondert erklärt. Weitergedacht, wird in diesem Kontext wird sogar der uns so wertvolle freie Wille infrage gestellt. Entspringen unsere Entscheidungen tatsächlich unserem eigenen Kopf oder Bauch, oder sind sie nicht schon Ergebnis einer Umschmeichelung durch die Werbung mit ausgeklügelten psychologischen Mitteln?

Fazit:
Marc Elsberg greift in seinem aktuellen Roman ein hochbrisantes Thema auf, mit dem wir nur allzu oft im Alltag konfrontiert sind, ohne uns dessen überhaupt bewußt zu sein. Wiewohl die Figuren für einen Roman oft zu farblos wirken, darf der Leser eine spannende Handlung in der Tradition wissenschaftlicher Thriller erwarten. In den Atempausen wird er dabei zu Überlegungen angeregt, die einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.