Rezension

Aus dem Leben eines Taugenichts

Talmi - Oskar Jan Tauschinski

Talmi
von Oskar Jan Tauschinski

Bewertet mit 5 Sternen

Der Roman beginnt in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in Österreich.
Ernst Rosanek, ein gutaussehender, charmanter junger Mann aus einfachen Verhältnissen, strebt nach Höherem. Es geht ihm nicht nur um Reichtum und Luxus, sondern auch um Anerkennung, gar Bewunderung – er will sich selber gänzlich neu erfinden, und so wird aus dem ungebildeten Fahrer und Gelegenheitsarbeiter der ‚Freiherr von Ronay‘.
Ernst hat sich eine glaubhafte Geschichte zusammengestrickt, warum er als vermeintlicher Sohn aus gutem Hause kaum Bildung genossen hat, und die Frauen fliegen dem Hochstapler nur so zu. Jede bringt ihm etwas bei: die richtige Ausdrucksweise die eine, Wissen über Kunst und Kultur die andere, die korrekte Haltung und gute Tischmanieren eine dritte…
Nur die Künstlerin Susanne Sedlak durchschaut ihn, liebt ihn aber trotzdem. Obwohl sie sein Verhalten nicht gutheißen kann, sieht sie in ihm Potential für Besseres.
Jedoch: es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Mit ‚Talmi‘ bezeichnet man eine Art von Falschgold: eine Kupfer-Zink-Legierung, die mit Blattgold überzogen wird. Welch überaus passender Titel ist das für einen Roman, dessen Protagonist alles dafür tut, eine edle Herkunft vorzutäuschen!
Tauschinski erzählt das mit feinem Witz, mit augenzwinkerndem Schalk – doch dieser wird mehr und mehr zum bittersüßen Kontrapunkt der Epoche, vor deren Hintergrund die Geschichte spielt.
Hitler kommt an die Macht, Ernst nimmt den Nationalsozialismus indes in letzter Konsequenz nicht als das wahr, was er ist. 
Als formvollendeten Narzissten kümmert ihn nur, was ihn selber betrifft. Bisher ist er gut damit gefahren, die Menschen zu imitieren, deren Platz in der Gesellschaft er anstrebt, und so plappert er auch jetzt nach, ohne zu hinterfragen. Er trägt das Gift mit eigenem Munde weiter, ohne den beißenden Geschmack auch nur wahrzunehmen.
Als Leserin war ich lange gewillt, ihn als harmlosen Egoisten abzutun, als charmantes, dummes Kind. Als hübsche Trophäe am Arm wohlhabender Frauen (welch umgekehrte Welt) tat er ja bisher niemandem weh, sondern lebte in erstaunlich harmonischen Beziehungen der gegenseitigen Ausnutzung – bis die jeweilige Frau ihn leid war.
Aber bis zu welchem Punkt kann man einem Menschen den Eigennutz und die Passivität verzeihen?
Es ist nicht nur der Leser, der an seine Grenzen kommt, selbst Susanne, die Ernstl bisher alles verziehen hat, erreicht den Punkt des schmerzlichen Erwachens – denn auch ihre Lehrerin und geliebte Freundin Aglaia schwebt als Jüdin in tödlicher Gefahr. Ob Susanne Konsequenzen daraus zieht, ob Ernst seinem fatalen Fehlverhalten rechtzeitig abschwört, das möchte ich hier noch nicht verraten.
Der Roman ist weit tiefgründiger, als man anfangs – und oberflächlich betrachtet – vielleicht erwarten würde. Kein reines Schelmenstück, nicht nur das verschmitzte Porträt eines gewitzten Münchhausens, sondern ein erstaunlich prägnantes, vielschichtiges Bild der Zeit und ihrer Bewohner. Der Alltag der Menschen wird ungeschönt dargestellt: der Hunger, die Kälte, die Bombennächte.
Ernst wird zum Sinnbild, zum Stellvertreter eines bestimmten Menschentyps.
Er steht nicht für den überzeugten Nazi, der den Massenmord wissenden Blicks gutheißt, sondern für den Durchschnittsmenschen, der sich abwendet, der nichts Unrechtes sehen oder hören will, um nicht handeln zu müssen.
Als Leser:in fragt man sich bang, ob man sich in Ernst nicht doch ein Stück weit wiedererkennt. Wäre man im Dritten Reich wirklich selber in den Widerstand gegangen, oder hätte man den Kopf eingezogen und nur an sich selbst gedacht? Vielleicht liegt es auch daran, dass die Geschichte eine ungeheure Sogwirkung entfaltet – ich konnte mich nicht davon lösen und las die 344 Seiten binnen zwei Tagen. Danach musste ich sie jedoch erstmal eine Weile sacken lassen, bevor ich damit begann, diese Rezension zu schreiben.
Es sind drei sehr unterschiedliche Charaktere, die meines Erachtens die Geschichte tragen.
Ernst, Susanne und Aglaia stehen nicht nur für unterschiedliche persönliche Wertvorstellungen, sondern sie positionieren sich auch sehr konträr in dem großen Konflikt ihrer Zeit. Der charmante Blender Ernst ist der Mitläufer, die warmherzige, kluge Aglaia ein Opfer der Hetze – und Susanne, die beide auf unterschiedliche Arten liebt, ist die stille Beobachterin, das Zünglein an der Waage. Sie sind verbunden durch Betrug und Selbstbetrug, Freundschaft und Liebe, das Elend der Zeit – doch letztlich gibt es zu viel, was sie auseinander reißt.
Die Charaktere (auch Nebencharaktere wie Aglaias junger Freund Berti) sind großartig geschrieben, sie wirken wie aus dem Leben gegriffen. In Aglaia und Berti hat Tauschinski sich selbst und Alma Johanna Koenig verewigt – das gibt dem Buch noch mehr Tiefe und eine zusätzliche Bedeutungsebene.
Fazit
In den 20er Jahren will der junge Ernst Rosanek hoch hinaus und beginnt eine fragwürdige ‚Karriere‘ als Hochstapler, indem er sich als verarmter Adliger ausgibt. Die Frauen sind nur zu bereit, ihn durchzufüttern und die Bildungslücken des armen Jungen zu schließen, so dass er in seiner Rolle immer überzeugender wird. Nur die Künstlerin Susanne Sedlak durchschaut ihn, entschuldigt sein Verhalten aber immer wieder vor sich selbst.
Aber dann kommt Hitler an die Macht, Ernst ist nicht gewillt, sich von seinen reichen Freunden und deren Propaganda zu distanzieren und Susanne muss um das Leben einer jüdischen Freundin fürchten. Was als charmantes Schelmenstück begann, wird zu einem ungeschönten, bestechenden Blick auf das Leben im Dritten Reich.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-oskar-jan-tauschinski-talmi/