Rezension

Aus dem Leben gefriffen

Ein Baum wächst in Brooklyn - Betty Smith

Ein Baum wächst in Brooklyn
von Betty Smith

Bewertet mit 4 Sternen

Francie Nolan ist 11 Jahre alt und lebt mit ihrem kleineren Bruder und ihren Eltern in Brooklny. Die Familie ist nicht reich. Vater Johnny verdient gelegentlich etwas als singender Kellner, spricht aber mehr und mehr dem Alkohol zu. Die resoluten Mutter Katie geht putzen und spart jeden Cent, damit ihren Kinder zur Schule gehen können und es einmal besser haben als sie. Francie selbst ist ein ruhiges Mädchen mit einer ausgesprochen guten Beobachtungsgabe. Sie ist empathischer als es ihr guttut, was das Leben für sie manchmal härter macht als es ohnehin schon ist.

Die präzisen Beschreibungen der Charaktere haben mir gefallen. Aber vor allem das sehr lebendig geschilderte Brooklyn war unheimlich lesenswert. Die Mietshäuser, die Nachbarschaft, die Läden, die Schule, die Stimmung: all das sorgte für ein authentisches Gefühl für diesen berühmten New Yorker Stadtteil und die Zeit um 1900.

Das Buch lebt von Francies Blick auf ihr Leben und auf ihre Familie. Allerdings blieb mir Francie dabei etwas fern. Einerseits ist sie zwar kindlich naiv, andererseits hat sie etwas sehr abgeklärtes, was es mir schwer machte ihr allzu nahe zu kommen. Am besten gefiel mir eine Szene in Francies Schule, in der die Lehrerin ihr sagen will, wie man „wahr“ schreibt und dass das, was sie über ihr echtes Leben geschrieben hat, niemals gute Literatur sein kann. Das hat mich sehr berührt und für sie eingenommen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass „Ein Baum wächst in Brooklyn“ zu großen Teilen autobiografisch ist, macht es diese Szene noch bedeutsamer. Nur schade, dass das in Buch selbst nirgendwo erwähnt ist! Ein Vorwort oder Nachwort hätte gutgetan. So musste ich mir dieses – wie ich finde – wichtige Detail selbst ergoogeln.

Neben dem lebendigen Alltag Brooklyns war sehr schön beschrieben, wie dem Träumer Johnny alles zu viel wird: Familie, Verpflichtungen, das Leben. Er flüchtet sich in den Alkohol, ist der kleinen Francie aber ein wunderbarer Vater, weil er sie versteht. Auch Katie und ihre Familie sind klasse: Die Rommely Frauen sind stark, zäh und durchsetzungsfähig. Dass in Rückblicken über Francies Eltern erzählt wurde hat mir gefallen. Und die diversen Geschichten über die Ehemänner der Rommely Schwestern sind erstaunlich lustig und sorgen auch im tristesten Alltag für ein paar Lacher. Smith hat zudem ein echtes Talent dafür, dass einem das Lachen manchmal im Halse steckenbleibt. Die Episode um eine Bootsfahrt zum Beispiel oder eine andere um einen Triebtäter: Es war teilweise so grotesk, dass es Witz hatte aber ich wusste nicht, ob Smith das auch so gemeint hat. Die Mischung aus traurig, ernst und lustig war nicht immer klar zu entschlüsseln.

Ein Baum wächst in Brooklny ist eine wunderbar geschriebene authentische und berührende Geschichte. Auch wenn Armut, Leid und Trauer eine große Rolle spielen, lässt Smith es nie zu düster werden. Hoffnung und eine positive Sicht auf das Leben finden sich auch in den dreckigsten Winkeln Brooklyns. Auch wenn mich das eine oder andere Detail nicht überzeugt hat, war es eine durchweg lesenswerte Geschichte mit großartigem Personal. Betty Smith hat es auf jeden Fall verdient noch einmal aufgelegt und von möglichst vielen Lesern neu entdeckt zu werden!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 22. Juli 2018 um 19:23

Ach, Betty Smith ist nicht zeitgenössisch?

katzenminze kommentierte am 22. Juli 2018 um 22:14

Bei LB läuft es unter Klassiker. ;)

wandagreen kommentierte am 23. Juli 2018 um 02:14

Dann muss ich es nicht lesen. Mit Klassikern bin ich fertig. Sozusagen. Mit ganz ganz ganz wenigen Ausnahmen. Um im Theater nehme ich sie alle noch mal an. Warum nicht? Da ist es amüsant.