Rezension

Aus der nahen Zukunft zurück bis 1930

Der Ursprung der Welt - Ulrich Tukur

Der Ursprung der Welt
von Ulrich Tukur

Bewertet mit 3 Sternen

In der nahen Zukunft reist Paul Goullet nach Paris, ein wohlhabender junger Deutscher aus einer Hugenotten-Familie. Nach dem frühen Tod seiner Mutter war Paul von seiner Tante Elsbeth aufgezogen worden, der Schwester seines Vaters. Am Stand eines Bouquineurs fällt ihm ein ledergebundenes Fotoalbum aus den 20ern des vorigen Jahrhunderts in die Hände. Dem elegant gekleideten Mann auf den Bildern darin ist Paul wie aus dem Gesicht geschnitten. Da Pauls Großvater Rudolf während der deutschen Besetzung Frankreichs als Gestapo-Chef in Toulouse eingesetzt war, kann es für die Ähnlichkeit alltägliche Gründe geben. Welche Familie hütet kein Geheimnis über ein Schwarzes Schaf oder ein unehelich geborenes Kind, das zu Verwandten in Pflege gegeben und über das nie wieder gesprochen wird. Großvater Rudolf schied verdächtig früh als Oberverwaltungsgerichtsrat aus dem Berufsleben aus, ein Thema, über das in der Familie betont geschwiegen wurde.

Zur Zeit der Handlung 2033 befindet sich Europa in Auflösung. Eine Phase korrupter, nationalistischer Strömungen und von religiösem Fanatismus ist durch ein Law-and-Order-Regime abgelöst worden, das seine Bürger peinlich genau überwacht. Ähnlichkeiten mit Ereignissen von 1933 sind sicher beabsichtigt.

Paul reist nach Banyul in Südfrankreich, wo damals Fluchthelfer Emigranten über die Pyrenäen schmuggelten und ihre Weiterreise organisierten. Er sucht die Person, die aussieht wie er heute und vor 100 Jahren lebte. Paul trifft auf Einwohner, die bei seinem Anblick zu erbleichen scheinen, und ihm fallen Unterlagen und Bilder in die Hände, die ihn in einen verwirrenden Strudel ziehen. Auch wenn es anders als in der Fantastik in diesem Roman keine Portale für den Übergang zwischen den Welten gibt, verschwimmen um Paul herum Gegenwart und Vergangenheit. Er scheint immer wieder zwischen den beiden Epochen zu stranden. Zeit und Ort lassen sich vom Leser nur schwer abgrenzen, die Verwirrung, ob gerade ein utopisches Szenario von 2033 geschildert wird oder die Vergangenheit, scheint beabsichtigt zu sein. Die totalitären Systeme von 1933 und 2033 scheinen sich aus meiner Sicht aufeinander zuzubewegen und die Zeit ringförmig zu verlaufen. Zum Unbehagen bei der Lektüre kommt noch hinzu, dass der Paul der Gegenwart offenbar zu besinnungsloser Gewalt fähig ist und dass es auch um die Résistance-Gruppe herum zu Gewalt-Exzessen kam.

Romanplots, in denen wechselnde Zeitebenen nicht klar voneinander abgegrenzt werden, finde ich anstrengend zu lesen. Auch wenn ich die Idee mit der extremen Familienähnlichkeit und den Fotos spannend finde, konnte mich der Roman nicht begeistern, der sich an historische Personen anlehnt (Dr. Rudolf Bilfinger, Dr. Marcel Petiot).