Rezension

Aus Geschichten wird Geschichte

Der Halbbart - Charles Lewinsky

Der Halbbart
von Charles Lewinsky

Der Sebi ist ein Schweizer Dorfjunge, doch er ist ein Finöggel, nicht kräftig genug für harte Feldarbeit und auch nicht tauglich zum Soldaten. Er träumt gern, hört gut zu, hat ein famoses Gedächtnis und viel Phantasie. Doch er lebt im 14. Jahrhundert, und da sind seine Gaben nicht besonders gefragt. Neugierig geht er auf den Fremden zu, der plötzlich im Dorf auftaucht. Sein halbes Gesicht ist von Brandwunden entstellt, dort wächst auch kein Bart mehr, und so erhält der wortkarge, menschenscheue Mann den Namen Halbbart. Sebi, dessen Vater schon lange tot ist, ist fasziniert von dem Mann und erfährt nach und nach dessen Geschichte, lernt viel von ihm und seinen Lebensweisheiten.

Das Dorfleben bleibt nicht ruhig und besinnlich; auch in das Tal bricht eine Welle von Gewalt. Da sind die Auseinandersetzungen zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Schwyzern um Ländereien, der sogenannte Marchenstreit, der am Anfang der Freiheitskämpfe der Eidgenossen gegen die Habsburger steht. Fassungslos erfährt Sebi, wozu Menschen fähig sind. Und er erlebt auch, wie die gleiche Situation aus dem Mund verschiedener Erzähler unterschiedlich klingt und welchen Einfluss das Wort hat. Sebi macht sich auf die Suche nach seinem eigenen Weg in dieser turbulenten Zeit.

Ein historischer Roman, der mich gleich gefesselt hat. Von den geschichtlichen Hintergründen wusste ich nichts, aber das Leben im Mittelalter wird plastisch geschildert. Sebi erzählt seine Geschichte, und das kann er mitreißend: Seine kindliche Perspektive lässt mich als Leser in sein Erleben eintauchen. Einerseits ist es mir völlig fremd: Diese Welt voller Gewalt, Aberglauben und Katastrophen ist nicht die unsrige - aber andererseits gibt es so viele Parallelen zu heute: Ein Junge auf dem Weg zum Erwachsenen, der einen Platz in der Welt sucht; der anfangs zu den Erwachsenen aufsieht und sie fraglos respektiert, bis er eine differenziertere Meinung entwickeln lernt; der erfahren muss, dass Gutes und Böses in der Welt ist und seine kindliche Unschuld verliert. Damit ist das Buch nicht nur ein historischer Roman, sondern auch ein Entwicklungsroman mit vielen philosophischen Anklängen.

Obwohl die Geschichte ganz aus Sebis Perspektive erzählt wird, ist sie tief. Sebis Erzählduktur ist glaubhaft, und immer wieder verwendet er Wörter aus dem Schweizerischen, die aber im Zusammenhang gut verständlich sind. Auf der Verlagsseite gibt es auch Worterklärungen. Das Buch hat mich an den Anfang von Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen erinnert. Ein bereicherndes Leseerlebnis!

Der Roman steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020.