Rezension

Ausflug nach Lissabon

Neun Tage in Lissabon - Hervé Le Tellier

Neun Tage in Lissabon
von Hervé Le Tellier

Lissabon, eine meiner Lieblingshauptstädte Europas, in die ich immer wieder gerne reise und immer wieder Neues entdecke. Dieser Roman sollte mich dorthin entführen, wenn ich daheim bleiben muss und hat es leider nur teilweise geschafft.

Die Figuren sind fein ausgearbeitet, aber nicht sehr sympathisch. Vincent und António sind sehr verschieden und verstehen sich mal gut, mal weniger gut. Der Roman wird aber hauptsächlich aus Vincents Sicht erzählt, womit er auch im Fokus steht. Seine Art rief einmal Mitgefühl, mal Mitleid, mal Kopfschütteln und mal Verwirrtheit bei mir hervor. Irgendwie hat er wirklich kein Talent für das Leben. Schade finde ich, das sein Charakter dann etwas einseitig beschrieben wird, denn er hat sicherlich auch gute Seiten. Das Gleiche gilt für António, der mal sehr tiefgehend charakterisiert wird, dann aber als Nebenfigur etwas zweidimensional bleibt.
 
Die Gespräche oder Gedankengänge sind sehr klug oder wirken zumindest so. Der Roman ist allgemein um einiges nachdenklicher und ruhiger als ich es erwartete. Der Serienmörder, über den sie berichten sollen, bleibt im Hintergrund und wird lediglich in 1-2 Kapiteln in den Fokus gerückt, da es schliesslich der Grund für den Aufenthalt von Vincent und António ist.
 
Der Schreibstil liest sich gut und hat eine, finde ich, gute Balance zwischen Beschreibungen und direkter Sprache. Ausserdem sind die Kapitel relativ kurz oder innerhalb der Kapitel die Szenenwechsel mit gut markierten Absätzen untertrennt. Deshalb liest sich das Buch auch gut unterwegs, weil es eben immer wieder Stellen gibt, an denen man gut unterbrechen kann.
Dennoch würde ich empfehlen, den Roman möglichst an einem Stück zu lesen, weil dann der rote Faden der Geschichte viel angenehmer und logischer ist.
 
Lissabon als "Bühne" der Erzählung ist sehr gelungen. Der Leser erhält genaue Informationen über Plätze, Strassen und Kleinigkeiten im Alltag. So hat der Autor seinen Blick für Details bewiesen, was mich sehr erfreute, da ich einige Schauplätze, an denen ich schon war, sehr gut in Erinnerung hatte. Wer sich allerdings Informationen über Sehenswürdigkeiten erhofft, findet mit diesem Roman keinen Reiseführer, obwohl einige sehr sehenswerte Orte und Gebäude genannt werden.
 
Was mich etwas irritierte war die Zeit. Die Geschichte spielt in 1985, was manchmal betont wird (z.B. mit Autos der damaligen Zeit oder explizit mit der Jahreszahl), andererseits aber in gewissen Szenen wohl vergessen wurde (denn ich bezweifle, dass Vincent 1985 in einem Strassencafé einfach sein MacBook auf dem Tisch für Notizen auspackt). Der grösste Aufreger für mich persönlich war jedoch der Fluss! So heisst der Fluss, der aus Spanien kommt und in Portugal bei Lissabon ins Meer mündet: Tejo. Was mich grausam ärgerte, jedes mal wenn ich darüber gelesen habe. Der Autor (bzw. Übersetzer) entschied sich jedoch für den spanischen Namen des Flusses und schrieb jeweils Tajo. Was ich anfänglich für einen bösen Patzer hielt, habe ich nach kurzer Internetrecherche akzeptiert. Da der Roman jedoch in Portugal / Lissabon spielt, verstehe ich die Wahl des spanischen Namens dennoch nicht.
 
Alles in Allem ein schöner Roman, der zwar meine Erwartungen nicht ganz erfüllte, aber auch nicht als Schlecht zu bezeichnen ist.
 

3 / 5 Sterne