Rezension

Ausgezeichnete, kritisch-einfühlsame Lektüre über Lebens-Perspektiven, die so nah' beieinander sind und doch von Welten getrennt.

Ocean King - Slimane Kader

Ocean King
von Slimane Kader

Bewertet mit 5 Sternen

Avec vue sous la mer - wer das von seiner Position sagen kann, hat die richtige Lebens-Perspektive gefunden.

„Avec vue sous la mer“ - das ist der Titel der Originalausgabe dieses Romans von Slimane Kader, und das ist die Position, die sich Wam, der Held dieser Geschichte, für sein Leben wünscht als er auf dem Luxusliner „Ocean King“ anheuert, der 6000 Touristen durch die Karibik schippert. Er will der bedrückenden Aura der Pariser Vorstädte entfliehen, will dahin wo Sonne und Palmen glitzernden Wohlstand und Überfluss versprechen, will eine Welt voll Unbeschwertheit und Müßiggang erobern.

Aber dieser Kreuzfahrtriese, der seinem Namen mit königlicher Größe alle Ehre macht, hat nicht nur 6000 Passagiere an Bord, die genussvoll schwelgend ihre Urlaubstage in der Bläue der Karibik verbringen, sondern hält in seinem Bauch 2000 Arbeitskräfte bereit, die ständig im Einsatz sind, um den reibungslosen Ablauf des High Society Programms zu gewährleisten. Das sind die, denen man für die Dauer ihrer Arbeitszeit die Pässe weggenommen hatte, damit sie dem wellenpflügenden Moloch bis zum Ende der Fahrt zu Diensten sein mussten, weil sie ihre Papiere erst dann zurück bekamen, wenn der Luxus-Gigant sein endgültiges Ziel erreichte und alle Menschenfracht ausspie.

 

Die Fatties – wie die Touristen auf Grund ihres meist offensichtlichen Übergewichts genannt werden – bevölkern die Decks mit verzogenen, kreischenden Kindern, bequemen, ausladenden Sonnenliegen, die den sorgfältig eingeölten, von kosmetischen Operationen mühsam in Form gehaltenen Körpern eine bequeme Unterlage bieten und lassen keinen ihrer Ansprüche ungenutzt. Warum auch, wenn ein Fingerschnippen eine ganze Hierarchie von Untergebenen auf den Plan zu rufen vermag, denen nichts mehr eingebleut wurde, als absolutes touristisches Wohlbefinden zu erzeugen, damit die existenzsichernden Lobeshymnen, auf welche die Schifffahrtsgesellschaft angewiesen ist, nicht abreißen.

In diesem perfekt funktionierenden Räderwerk unten in schweißüberströmender, geschäftiger Tiefe hat jeder seinen Platz. Eine Armada von Bediensteten, vom Koch bis zur Revue-Tänzerin, vom Mechaniker über Wäschereihelfer, Oberkellner und Gigolos sind Menschen verschiedenster Nationalitäten hier gelandet, um Geld zu verdienen, ihren ärmlichen Verhältnissen in der Heimat zu entfliehen und vielleicht eines Tages den Schritt aus dem Bauch heraus an Deck, ans Tageslicht zu schaffen. Aber bis dahin gelten die Gesetze einer dunklen Arbeitswelt, die mit hohem Gewaltpotential, Angst und Neid dafür sorgt, dass Niemand diesem Kastensystem entfliehen kann, dass jeder „funktioniert“ und sich vertragsgemäß abrackert. Aber in allem Schweiß und erstickender Hitze gibt es doch das Gefühl einer Solidarität, die ab und zu das gemeinsame Schicksal spüren lässt und dadurch das Negative zu neutralisieren versteht.

Wams Position könnte man mit einer Portion Ironie als die facettenreichste innerhalb der „Bauchbesatzung“ bezeichnen – er ist ein „Joker“ - ein Mann für alle Fälle – vom „Hundeausführer“ über Rohrreiniger und Cookie-Bäcker bis hin zum Kinder-Animateur im Eisbär-Fell und hundertfachen Kakerlaken-Mörder, dessen berufliche Zugehörigkeitsgrenzen sich dadurch verwischen und einen Aufstieg vom Joker zum Teamchef oder vom Dunkel ins Licht erleichtern könnten.

Slimane Kader hat ein brillantes Bild unserer Gesellschaft gezeichnet. Mit reichhaltiger, flüssiger Sprache schreibt er über Banales und Bedeutsames, Absurdes und Normales, Enttäuschendes und Rührendes. Mit humorvollen Metaphern und intelligenten, sensiblen Beobachtungen holt er den Leser in unglaublicher Dringlichkeit zu sich an Bord und versteht, die widersprüchlichsten Gefühle in ihm zu wecken – Abneigung gegen die abstoßende, gedankenlose Dekadenz in der „upper-class“ und Partei zu ergreifen für die bezahlte Masse, die in eigener Gesetzmäßigkeit den Rücken für ein paar Dollars krümmt.

Ein Buch, das nachdenklich stimmt, neue Blickwinkel öffnet und doch viel versöhnlichen Humor zulässt, der allen menschlichen Stärken und Schwächen ihren Raum zubilligt.

Obwohl der Roman für mich während des Lesens einen gewissen Status der Anonymität nicht verlassen hat, also eine Identifikation mit Personen ausblieb, hatte ich doch ein anspruchsvolles Leseerlebnis, für das ich gerne alle Sterne vergebe.