Rezension

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Außergewöhnlich, authentisch, bedrückend, intensiv!

Die Farbe von Milch
von Nell Leyshon

~ Eine intensive, bedrückende Geschichte, die in ungewöhnlichem, authentischem Schreibstil verfasst wurde. Nell Leyshon zeichnet ein glaubwürdiges Porträt des (bäuerlichen) Lebens im 19. Jahrhundert und präsentiert uns eine sympathische, schlaue, vorlaute Protagonistin, die in einer von männlicher Dominanz geprägten Welt niemals frei sein kann. Man fühlt sich wütend und hilflos ob der Ungerechtigkeiten und der Gewalt, die Mary aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit und ihres Geschlechts widerfahren. Dieses Buch kann (vor allem jenen, die „früher“ und die alte Rollenverteilung noch immer romantisieren und sich danach zurücksehnen) als Erinnerung dienen, wie wichtig es ist, für Gleichberechtigung zu kämpfen. „Die Farbe von Milch“ ist ein Buch, das sich zum Pageturner entwickelt und das man nicht aus der Hand legen kann, bis auch das letzte Wort gesagt ist. Es ist ein Buch, das euch/Sie nach dem Lesen nicht so schnell loslassen wird. ~

Inhalt

Gemeinsam mit ihren drei Schwestern, ihren Eltern und ihrem Großvater lebt die fast 15-jährige Mary im Jahre 1831 auf einem kleinen Bauernhof. Jeden Tag stehen harte Arbeit und karges Essen auf dem Plan – und wer nicht gehorcht, lernt die unangenehme Seite des mürrischen, unzugänglichen Vaters kennen. Dieser schlägt die Kinder mit einer gewissen Regelmäßigkeit und scheut auch nicht davor zurück, sie regelrecht zu verprügeln. Alles ändert sich für Mary, als sie gezwungen wird, als Hausmädchen im Pfarrhaus zu arbeiten, weil die Frau des Pfarrers schwer erkrankt. Es ist ein anderes Leben, das Mary dort kennenlernt, und langsam scheint sie sich daran zu gewöhnen. Auch, weil sie sich mit der Pfarrersfrau anfreundet. Deren Tod verändert jedoch erneut alles für Mary…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: Das Buch ist in fünf große Teile unterteilt, die den Jahreszeiten entsprechen. Herkömmliche Kapitel gibt es nicht.
Tiere im Buch: Es werden im Buch Tiere geschlachtet, es werden keine Tiere gequält. Einer Kuh wird viel Zuneigung entgegen gebracht. Dies entspricht dem Leben der damaligen Zeit.

Warum dieses Buch?

Die vielen begeisterten LeserInnenstimmen haben mich sofort neugierig gemacht. Nachdem ich den Klappentext gelesen hatte, wusste ich, dass ich das Buch unbedingt lesen muss.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg verlief angenehm und einfach, auch wenn man sich zuerst einmal an die ungewöhnliche Erzählweise und den besonderen Schreibstil gewöhnen muss. Dazu werden manche LeserInnen bestimmt länger brauchen. Ich bitte hier um Geduld – es lohnt sich! Bevor man sich versieht, wird man tief in die Geschichte um Mary hineingezogen und ist bereit, Mary bis ans Ende ihrer Erzählung zu begleiten.

„Ich will erzählen was passiert ist aber ich muss aufpassen dass ich nicht zu hastig vorpresche wie die Kühe am Weidegatter denn sonst komm ich ins Stolpern und falle und außerdem will ich anfangen wo jeder vernünftige Mensch anfangen sollte. Und zwar am Anfang.“ E-Book, Position 29

Schreibstil ( ♥ )

Der Schreibstil ist als absolut ungewöhnlich zu beschreiben. Nell Leyshon gelingt es hier ausgezeichnet, einen authentischen, glaubwürdigen Erzählstil für ihre minderjährige Protagonistin zu kreieren, der ihre Persönlichkeit perfekt einfängt. Die Inhalte von Marys Gedanken sind an ihr einfaches Leben angepasst, die Sätze dementsprechend einfach und leicht verständlich. Es finden sich hier hauptsächlich Hauptsatzreihen, die Konjunktion „und“ wird übermäßig benutzt – das lässt den Schreibstil kindlich wirken. Die häufigen Wiederholungen, die fehlenden Beistriche und der begrenzte Wortschatz spiegeln Marys geringe Bildung perfekt wieder. Mit diesem Schreibstil ist der Autorin ein kleines Kunstwerk gelungen, da die Protagonistin mit jedem Wort lebendiger, greifbarer und authentischer wird. Man schmunzelt über und ist gleichfalls fasziniert von ihren Metaphern und Vergleichen (die sehr nah an ihren Erfahrungen sind), staunt über ihre treffenden, manchmal beinahe weisen Formulierungen und glaubt ihr jedes Wort.

Hauptfigur (♥)

Mary ist eine sympathische, einzigartige, starke Protagonistin, die man gerne begleitet. Schon auf den ersten Seiten merkt man, dass diese junge Dame in eine Zeit geboren wurde, in die sie eigentlich nicht passt. Würde sie im Jahre 2018 leben, würde sie vermutlich studieren und sich leidenschaftlich für Gleichberechtigung einsetzen. Trotz ihres geringen Bildungsgrades wird einem nämlich schnell bewusst, dass Mary viel mehr zu bieten hat, als man erwarten würde: Sie ist schlau, schlagfertig, wissbegierig, hält nicht viel von der propagierten Gottesfürchtigkeit und besitzt ein freches Mundwerk, das für sie Fluch und Segen zugleich ist. Nicht einmal die dominantesten Männer in ihrem Leben schaffen es, Mary zu brechen. Viele Dinge, die für Mary zum Alltag gehören und damals auch ganz normal waren wie die grenzenlose Macht und Gewalt des Vaters, das schwere Leben und die harte Arbeit, schockieren umso mehr durch Marys unaufgeregten Erzählstil. Beim Lesen fiebert man mit Mary mit und schließt sie auch sehr bald ins Herz.

„Ich war ein spindeldürres Ding mit milchfarbenem Haar und ich kam später auf die Welt als erwartet […]. Sie sagt ich hab mich einmal umgeschaut und dann hab ich meinen Mund aufgemacht und hab geschrien und manche behaupten ich hätte den Mund seitdem nie wieder zugemacht.“ E-Book, Position 145

Nebenfiguren (+)

Die Figuren sind bis in die Nebenfiguren gut gezeichnet, auch wenn manchen von Mary nicht allzu viele Worte gewidmet werden und man nicht viel über sie erfährt (das hat Gründe). Dennoch bekommt man auch bei Marys sparsamen Beschreibungen schnell ein Gefühl für z. B. die Unberechenbarkeit und Brutalität des Vaters, die innige Beziehung zwischen dem herzensguten, ebenfalls intelligenten Großvater und seiner Lieblingsenkelin und den frechen, provokanten Pfarrerssohn, der immer wieder versucht, mit Mary zu flirten und sie aus der Reserve zu locken.

Idee, Themen & Botschaften ( ♥ )

Es ist eine einmalige Idee, die die Autorin ebenso einzigartig und intensiv umgesetzt hat. Mit Marys Bericht zeichnet sie ein authentisches Porträt des (bäuerlichen) Lebens der damaligen Zeit und präsentiert uns ein Mädchen, dem körperlich alles abverlangt wird, das aber geistig absolut unterfordert ist, weil sie ihr Potential nicht nutzen kann. Idyllisches Familienleben wird man in diesem Buch nicht vorfinden, stattdessen eine Welt, in der man gerade so viel wert ist, wie man schuften kann (wie gut sich um den arbeitsunfähigen Großvater gekümmert wird, kann man sich da schon denken). Aber auch die Macht der Männer im damals noch unangefochtenen Patriarchat wird mehr als deutlich, wenn das Buch schonungslos häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Missbrauch thematisiert. Marys Geschichte zeigt, dass es für Frauen damals keinen Ausweg gab, keine Hilfe – dass sie den Männern absolut ausgeliefert waren. Man fühlt sich wütend, hilflos, traurig, kann nicht verstehen, warum das Geschlecht, mit dem man zur Welt kommt, entscheiden soll, was für ein Leben man leben wird.

Die Reste dieses Patriarchats und die teilweise immer noch propagierten starren Geschlechterrollen führen auch heute noch zu großen Problemen. Auch heute noch sind Frauen in den allermeisten Fällen Opfer von sexueller Gewalt, auch in unserer Zeit werden sie von (Ex)-Partnern getötet (laut BKA-Statistik, nachzulesen in einem Artikel der Tagesschau, waren das 2017 alleine in Deutschland 149 Opfer). Vergewaltigung in der Ehe ist übrigens erst seit knapp 20 Jahren strafbar - ein Gesetz, das auch heute noch von vielen als lächerlich abgetan wird. Dieses Buch kann uns daran erinnern, warum es so wichtig ist, für Gleichberechtigung und für das Aufbrechen der alten, starren Geschlechterrollen zu kämpfen.

„Vater nahm Großvater bei den Armen und zog ihn aus dem Stuhl und aus der Küche und ins Nebenzimmer.
Halt ihn auf, sagte ich zu Mutter. Halt ihn auf.
Nein, sagte Mutter. Wem gehört denn der Hof hier? Wer hat denn hier das Sagen?“ E-Book, Position 290

Atmosphäre & Humor (+)

Die Atmosphäre ist stellenweise sehr bedrückend, intensiv, schwer zu ertragen. Jedoch gibt es auch humorvolle Stellen, die Marys Bericht auflockern. Ihr freches Mundwerk und ihre direkte Art, stets die Wahrheit auszusprechen, sorgen für manches Schmunzeln.

„Sie haben so viel gegessen, sagte ich, wie unser Schwein am Morgen.
Er lächelte. Mary, sagte er, gestatte dass ich dir einen Rat gebe. Vergleiche deinen Arbeitgeber nicht mit einem Schwein.
Oh, sagte ich. Ich wollte nicht unhöflich sein. Wir haben unser Schwein alle sehr gern.“ E-Book, Position 884

Dialoge (+)

Auch die Dialoge sind sehr authentisch geschrieben. Sie wirken lebendig, sind manchmal belanglos, manchmal unvergesslich – wie im richtigen Leben eben auch. Eine weitere Besonderheit hat das Buch: Es gibt keine Anführungszeichen bei wörtlichen Reden. Jedoch sind diese dennoch gut zu erkennen und zuzuordnen. Auch daran gewöhnt man sich sehr schnell.

Spannung (+)

Marys Bericht und ihre kleinen Vorausdeutungen kreieren eine ganz eigene Art von Spannung. Man fiebert mit Mary mit und will natürlich wissen, warum sie ihre Geschichte überhaupt aufschreibt und was ihr wiederfahren ist. So wird das ohnehin dünne Büchlein schnell zum Pageturner, den man erst wieder aus der Hand legen kann, wenn Mary auch das letzte Wort gesagt hat.

Mein Fazit

Eine intensive, bedrückende Geschichte, die in ungewöhnlichem, authentischem Schreibstil verfasst wurde. Nell Leyshon zeichnet ein glaubwürdiges Porträt des (bäuerlichen) Lebens im 19. Jahrhundert und präsentiert uns eine sympathische, schlaue, vorlaute Protagonistin, die in einer von männlicher Dominanz geprägten Welt niemals frei sein kann. Man fühlt sich wütend und hilflos ob der Ungerechtigkeiten und der Gewalt, die Mary aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit und ihres Geschlechts widerfahren. Dieses Buch kann (vor allem jenen, die „früher“ und die alte Rollenverteilung noch immer romantisieren und sich danach zurücksehnen) als Erinnerung dienen, wie wichtig es ist, für Gleichberechtigung zu kämpfen. „Die Farbe von Milch“ ist ein Buch, das sich zum Pageturner entwickelt und das man nicht aus der Hand legen kann, bis auch das letzte Wort gesagt ist. Es ist ein Buch, das euch/Sie nach dem Lesen nicht so schnell loslassen wird.

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die sich an fehlenden Beistrichen und an Wiederholungen nicht stören und die bereit sind, sich auf etwas ganz Besonderes einzulassen.

Bewertung

Idee: 4 Sterne
Ausführung: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Personen: 4,5 Sterne
Hauptperson: 5 Sterne  ♥
Spannung: 4,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Botschaften: 5 Sterne ♥
Macht nachdenklich, wütend, hilflos!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀ ♥

Dieses Buch bekommt von mir fünf verdiente Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!