Rezension

Außergewöhnlicher Kriminalroman im alten Stil - für alle Fans der "Old Crime Novels"

Mord in der Mangle Street - M. R. C. Kasasian

Mord in der Mangle Street
von M. R. C. Kasasian

Nachdem uns James Runcie in seinem Buch Der Schatten des Todes mit dem sympathischen Landpfarrer Sidney Chambers bereits einen ungewöhnlichen Protagonisten als Ermittler präsentierte, geht der britische Autor Martin R. C. Kasasian mit der Hauptfigur seines Romans Mord in der Mangle Street, der im viktorianischen London um 1882 spielt, noch einen Schritt weiter: Mit Sidney Grice, Englands namhaften Privatdetektiv mit dem Glasauge, stellt er uns einen arroganten Grantler und Zyniker vor, dem anscheinend jegliche menschliche Regung fremd ist. Und doch kommen wir letztendlich nicht umhin, ihn trotz allem zu mögen, denn was oder besser wer macht selbst den unsympathischsten Charakter erträglich? Eine Frau, die es mit ihm aufnehmen kann. Hier kommt sein Mündel und Patenkind March Middleton, 21, ins Spiel, die als alleinstehende Frau nach dem Tod ihres Vaters, dem angesehenen Chirurgen Geoffrey Middleton, nunmehr bei Sidney unterkommt und sein bis dato beschauliches Leben auf den Kopf stellt. Zum einen entspricht March in keiner Weise dem damaligen Idealbild einer Frau: Sie ist weder hübsch noch hält sie sich bescheiden im Hintergrund. Zum anderen ist ihre Vorliebe für Gin und Zigaretten für Sidney ein absolutes Gräuel, doch er schafft es nicht, sie davon abzubringen, denn March hat ihren eigenen Kopf.

Ein mysteriöser Mordfall

Viel Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen, bleibt den beiden nicht, denn Sidney steht ein mysteriöser Mordfall ins Haus. Grace Dillinger bittet ihn, im Mordfall ihrer Tochter Sarah zu ermitteln, die in ihrem Laden mit 40 Messerstichen brutal ermordet wurde, während ihr Mann William im Nebenzimmer schlief. An der Wand hat der Täter das Wort Rivincita (Rache) hinterlassen. Die Polizei hält William für den Täter und verhaftet ihn wegen Mordes. Bei einer Verurteilung droht ihm die Todesstrafe. Grace glaubt aber keinesfalls, dass ihr Schwiegersohn die Tat begangen hat und bittet Sidney inständig, den wahren Mörder zu finden. Da sie aber kein Geld hat, um Sidneys Honorar zu zahlen, weigert sich dieser hartnäckig, tätig zu werden – sehr zum Missfallen von March, die nicht verstehen kann, warum er nicht einen Funken Mitgefühl zeigt. Schließlich bietet March an, Sidney aus ihrem Erbe zu entlohnen, wenn er den Fall übernimmt. Die einzige Bedingung, die sie für die Honorarzahlung stellt, ist, dass sie Sidney bei seinen Ermittlungen über die Schulter schauen darf. Zähneknirschend willigt Sidney ein – insgeheim aber imponiert ihm Marchs Hartnäckigkeit. Darüber hinaus erweist sie sich auch noch als äußerst hartgesotten, denn weder der Anblick von Blut noch von Leichen kann sie schockieren – als Chirurgen-Tochter hat sie ihrem Vater schon auf einigen Schlachtfeldern, u.a. in Indien, bei OPs assistiert.

Schuldig oder nicht schuldig?

Im Laufe der Ermittlungen kristallisiert sich für March immer mehr heraus, dass William unschuldig ist, während Sidney ihn zweifelsfrei für einen Mörder hält. March versucht alles, um Sidney vom Gegenteil zu überzeugen, doch alle Argumente prallen an ihm ab. Er zieht keine Sekunde auch nur in Erwägung, dass er sich irren könnte. Doch March ist keinesfalls gewillt aufzugeben, und so beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem nicht nur Sidneys Ruf in Zweifel gezogen wird, sondern auch March in höchste Gefahr gerät. Als March zu ihrem Entsetzen schließlich erkennen muss, dass die Dinge nicht so sind wie sie scheinen, ist es schon fast zu spät. Abgestoßen von Sidneys Arroganz und Selbstherrlichkeit, unterschätzt sie seinen Spürsinn und seine Kompetenz, während er den Killer schon längst im Visier hat…

Außergewöhnlicher Kriminalroman im alten Stil

Dieser unterhaltsame Krimi im alten Stil hat mich begeistert – zum einen, weil ich diese Art derOld Crime Novels, die im viktorianischen London spielen, sehr liebe, zum anderen, weil Kasasian mit Sidney Grice und March Middleton ein erfrischend bizarres Ermittlerteam geschaffen hat, das allein für sich schon Unterhaltungswert hat. Sidney Grice als detektivisches Mastermind ist alles andere als eine spektakuläre Erscheinung: Er ist klein, hager, hinkt und hat ein Glasauge. All das täte nichts zur Sache, wenn nicht sein Charakter so sehr zu wünschen übrig ließe. Doch hinter seiner schroffen Fassade verbirgt sich so manche „menschliche“ Überraschung, die nicht nur March, sondern auch den Leser verwundert. Auch March ist nicht gerade die Verkörperung des viktorianischen Frauenideals und ihr fataler Hang zum Gin, mit dem sie versucht, ein trauriges Kapital ihres Lebens zu vergessen, ist irritierend. Doch als Pendant zum stets mürrischen Misanthropen Grice ist sie äußerst wohltuend und erquicklich.

Ein spezielles Highlight: Poetische Fragmente einer tragischen Liebesgeschichte

Was mir neben den verschrobenen Charakteren und der einfallsreichen Story ganz besonders gefallen hat, ist die tragische Liebesgeschichte zwischen March und Edward, die in kurzen kursiv gedruckten Fragmenten angerissen, aber nicht zu Ende erzählt wird. Sie ist für mich ein spezielles Highlight des Buchs, denn die poetische Sprache, mit der Kasasian die Begegnungen und kurzen Momentaufnahmen des Glücks der beiden Liebenden übermittelt, ist außergewöhnlich berührend und sehr ans Herz gehend.

Mein Fazit: Eine sehr empfehlenswerte Lektüre mit einer Prise gutem englischen Humor und einem Hauch Poesie.