Rezension

Außerordentlich fesselnd und sehr atmosphärisch! Absolute Leseempfehlung!

Fräulein Gold. Scheunenkinder - Anne Stern

Fräulein Gold. Scheunenkinder
von Anne Stern

Bewertet mit 5 Sternen

Ein sehr atmosphärischer Roman mit einer unglaublichen Sogkraft. Es war ein tolles Leseerlebnis die Hebamme Hulda Gold ins Jahr 1923 begleiten zu dürfen. Was für ein außergewöhnlich faszinierender Charakter!

Hulda liebt ihren Beruf als Hebamme mit Leib und Seele, der viele Herausforderungen an sie stellt, die sie bisher mit großem Geschick und Einfühlungsvermögen meistern konnte. Dies benötigt sie gerade für ihren neuesten Auftrag, der sie ins ärmliche Scheunenviertel von Berlin führt, wo sie die Rothmanns, eine strenggläubige jüdische Familie erwartet. Doch Willkommen fühlt sie sich überhaupt nicht bei ihnen. Ablehnung und Misstrauen schlägt ihr entgegen und eine unerklärliche Angst liegt dort in der Luft. Nur mit viel Behutsamkeit kann sie das Vertrauen von Tamar gewinnen und hilft ihr ein paar Tage später ihren kleinen Sohn zur Welt zu bringen. Doch bei ihrem nächsten Kontrolltermin schockt sie der Anblick der jungen Frau, die apathisch, nicht ansprechbar und ohne Lebensmut ist. Ihr Kind ist spurlos verschwunden und die Familie und Nachbarn hüllen sich in eisiges Schweigen. Für Hulda ist es ein unerträglicher Zustand und sie macht sich eigenhändig auf die Suche nach ihm, die sie in größte Gefahr bringt, da im Viertel gewalttätige Unruhen gegenüber der jüdischen Bevölkerung ausbrechen. Steckt die Familie hinter seinem Verschwinden, oder hängt  es vielleicht mit einer kriminellen Bande zusammen, für die Kinder eine Ware sind, mit denen man schnell Geld verdienen kann und denen die Berliner Polizei auf die Schliche zu kommen versucht?

Auf „Fräulein Gold-Scheunenkinder“, Band 2 der Hebamme von Berlin Reihe, bin ich durch das tolle Cover und den vielversprechenden Klappentext aufmerksam geworden, hinter dem sich ein ausgesprochen fesselnder historischer Kriminalroman verbirgt, der mich sehr begeistert hat. Anne Stern schafft mit ihren herausragenden Charakteren und den geschichtlich gut recherchierten und wirklichkeitsnah dargestellten Begebenheiten der damaligen Zeit eine unglaublich atmosphärische Stimmung beim Lesen. Pures Kopf- und Gefühlskino, wird hier durch ihren extrem bildhaften und sehr empathischen Schreibstil erzeugt. Die Wirtschaftskrise mit ihren verheerenden Auswirkungen, politische Ereignisse, die beginnende antisemitische Bewegung, und die Darstellung der unterschiedlichen kulturellen und religiösen Lebensweisen der Menschen werden hier sehr gekonnt mit in Huldas Geschichte eingeflochten. Ihre Rolle als warmherzige und sehr engagierte Hebamme, aber auch als hartnäckige und furchtlose Detektivin fand ich total spannend und sehr reizvoll. Gefühlt stand ich neben ihr und habe alles zusammen mit ihr miterlebt: Freude, Fürsorge, Verantwortungsgefühl und Ängste, die die Mütter und deren Kinder bei ihr auslösen und ihre Unsicherheit und Verletzlichkeit, wenn es um ihr Liebesleben ging. Sie ist so eine sympathische, sensible, resolute und hartnäckige junge Frau, die mir durch ihre Lebensfreude und ihre Wagnisse, die sie eingeht, direkt ans Herz gewachsen ist. Es ist so schön, dass sie in Jette endlich eine Freundin gefunden hat, mit der sie offen reden kann und ich war die ganze Zeit gespannt darauf, wie sich ihre Beziehung zu dem Kommissar Karl North und dem Rabbi Esra Rubin entwickelt. Zwei Männer, die ihre Gefühle auf unterschiedlichste Weise ansprechen und für sie eine Stütze auf der Suche nach dem verschwundenen Kind sind. Als Halbjüdin muss sich Hulda zum ersten Mal auch mit dem sehr bedrückenden Thema Antisemitismus beschäftigen und als Leser denkt man hier schon weiter, da man die furchtbare Entwicklung immer in Erinnerung hat. Sehr gut gefallen hat mir auch Tamars schicksalhafte Geschichte. Ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, bei der sie so verletzlich und misstrauisch, aber auch dankbar und willensstark rüberkommt. Sehr schön waren auch die Szenen mit Huldas Vermieterin Frau Wunderlich, die so eine herzensgute Frau ist und sich immer um ihren Schützling sorgt.

Zum Schluss hin hat Anne Stern alles ganz wundervoll zu Ende erzählt und für einige eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen. Die kurze Leseprobe am Ende hat bei mir schon eine unglaubliche Neugierde auf Huldas weitere Lebensgeschichte ausgelöst und ich fiebere Band 3 sehr entgegen.  

Mein Fazit:

Durch „Fräulein Gold-Scheunenkinder“ habe ich mit Anne Stern eine neue Autorin für mich entdeckt, von der ich auf jeden Fall noch weitere Bücher lesen möchte. Die Reihe um die Hebamme Hulda Gold kann ich jedem nur wärmstens an Herz legen.