Rezension

Auswanderergeschichte mit ganz besonderem Flair

Die Dünenvilla - Nicole Winter

Die Dünenvilla
von Nicole Winter

Bewertet mit 4 Sternen

Wir schreiben das Jahr 1884. Der deutsche Arzt Friedrich Böhm verlässt mit seiner Familie Deutschland. Nach dem Tod seiner Frau ist er für seine (fast) erwachsenen Kinder Thomas und die Zwillinge Julia und Sophia allein verantwortlich. In Savannah/USA wollen sie sich niederlassen und eine neue Existenz aufbauen. Doch dazu kommt es nicht.

 

Das Schiff, mit dem sie unterwegs sind, sinkt in einem Sturm vor der amerikanischen Ostküste und nur knapp entgeht die Familie dem Tod. So verschlägt es Böhm auf die noch sehr ursprüngliche Insel Martha’s Vineyard vor Massachusetts. Da die Landschaft ihn an seine geliebte Ostseeküste erinnert, beschließt er, dort zu bleiben und ein Sanatorium für „hysterische Gemüter“ und Lungenkranke zu eröffnen.

Dies gelingt letztlich nur, weil alle Familienmitglieder tatkräftig mit anpacken – doch der Arzt wird immer wieder damit konfrontiert, dass seine Kinder eigentlich andere Vorstellungen von ihrer Zukunft haben. Besonders Sohn Thomas rebelliert. Er ist ein Freigeist, den es in die Welt hinaus zieht. Zwar hat er auf Geheiß seines Vaters Medizin studiert, aber eigentlich zieht es ihn zu der revolutionären Lehre der Psychologie. Als er dem schillernden Erfinder Ambrose Chisholm begegnet, dem allerdings ein unsittlicher Lebenswandel und Homosexualität nachgesagt werden, ist er fasziniert und gerät aufgrund seiner Freundschaft zu Ambrose mehr als einmal in Bedrängnis.

 

Der lebensfrohen Julia ist vor allem daran gelegen, aus der langweiligen Provinz zu entkommen und möglichst schnell einen gut situierten Bräutigam zu finden – dafür schließt sie schon mal den einen oder anderen (faulen) Kompromiss, der dann fast in einem Desaster endet.

 

Und schließlich ist da die stille Sophia, eine talentierte Malerin, die aufgrund einer Kinderlähmungs-Erkrankung ein Bein nachzieht und sich in ihrer eigenen Wahrnehmung auf diese Behinderung reduziert. Der Naturforscher Scott McKinnon schaut aber nach und nach hinter diese Fassade und entdeckt dort eine wissbegierige und starke junge Frau mit außergewöhnlichen Talenten.

 

Nicole Winters Roman kommt meines Erachtens mit einem eher ungewöhnlichen Flair daher. Sie beschreibt den Alltag im neuen Sanatorium, z. T. auch mit den hysterischen Anfällen der Patientinnen und dadurch herrscht eher keine Wohlfühlstimmung, sondern manchmal eine fast bedrückende Atmosphäre. Auch in den Kapiteln über die langsame Annäherung von Scott und Sophia ist deren Behinderung gedanklich oft ein schwelendes Thema und auch die (erfolglosen) Bemühungen von Scott, Wandertauben zu züchten und sie zur Brut zu bewegen, um die Art zu erhalten, lassen die Stimmung manchmal etwas gedrückt erscheinen. Das alles passt absolut stimmig zur Geschichte – aber ich hatte es mir im Vorfeld etwas anders vorgestellt.

 

Ein wunderbarer Charakter in diesem Buch, den ich unbedingt erwähnen möchte, ist Miss Luce. Die alte Dame lebt mit ihren vier Hühnern, die sie wie Haustiere hält und „betüddelt“, in der Nähe des Sanatoriums. Miss Luce ist auf eine stubtile Art weise und gewitzt, obwohl sie nach außen hin eher die wunderliche Alte gibt. Sie hat mich in diesem Roman am meisten beeindruckt.

 

Weniger beeindruckt war ich allerdings vom Ende des Romans. Es kam mir so vor, als sei sich die Autorin nicht sicher gewesen, ob sie das Ende so gestalten soll, dass es die Basis für einen Folgeband sein könnte oder ob die Story auserzählt werden sollte. Für mich fühlte es sich an, als sei es weder das eine noch das andere. Es ist jedoch auch nirgends erwähnt, dass die Geschichte der Dünenvilla weitergehen soll. Dafür wiederum blieben mir zu viele Fragen offen. So hätte ich gern gewusst, ob Scott mit seinen Tauben noch Erfolge erzielen konnte oder ob auch Julia noch die heiß ersehnte große Liebe findet – beides Themen, die man im Epilog hätte mit unterbringen können.

 

Insgesamt jedoch habe ich einen unterhaltsamen Roman gelesen, der den Blick nicht nur auf eine Familiengeschichte lenkt, sondern auch auf die Anfänge der Psychologie und die Folgen der zunehmenden Industrialisierung für die Natur in den USA. Neben der Romanhandlung vermittelt das Buch eine Vorstellung davon, wie das Leben im ausklingenden 19. Jahrhundert in den USA aussah. Auch wenn ich also einige kleine Kritikpunkte habe, halte ich das Buch doch für sehr lesenswert.