Rezension

Auswirkungen eines Krieges

Ein mögliches Leben
von Hannes Köhler

Bewertet mit 4 Sternen

„Und was Franz gelernt hat über die Angst, ist, dass sie schnell kommt und sich einrichtet, aber nur sehr langsam wieder geht, dass sie Stollen gräbt in ihm, die tief gehen, sich verzweigen, dass sie wächst nur aus sich selbst und sie befeuert, dass sie nur kleine Anlässe braucht, nur das nächtliche Klappen einer Tür, Stimmen am Fenster der Baracke, nur den Blick eines Kameraden, den er nicht deuten kann.“ (S. 110)

Hannes Köhlers „Ein mögliches Leben“ erzählt eine Geschichte aus dem Krieg mit den Auswirkungen, die die Geschehnisse nicht bloß auf diejenigen haben, die direkt beteiligt sind, sondern über Generationen hinweg auf ganze Familien.

Dabei hat mich schon das Bild auf dem Cover in seinen Bann geschlagen, auch wenn man davon bei einem E-Book ja leider nicht so viel hat und ich deswegen wahrscheinlich weniger Wert darauf legen sollte. Und was zwischen den Deckeln dieses Romans steckt, das hat es auch echt in sich.

„Eine Sprache ist nie eine Flause, sondern immer eine Möglichkeit.“ (S. 148)

Hannes Köhler bedient sich in diesem Buch einer Sprache, die mich zum einen sehr begeistert hat, und die er zum anderen auch sehr gut an die verschiedenen Charaktere, denen in den entsprechenden Abschnitten Platz eingeräumt wird, anpassen kann. Dabei werden die Orte, die vorkommen, lebendig und zwischendurch kommt beinahe ein Gefühl von Dabeisein auf, obwohl die Handlung sowohl zeitlich als auch räumlich so weit entfernt ist.
Zwischendurch hatte ich Schwierigkeiten, dem Handlungsverlauf zu folgen, weil plötzliche perspektivische oder zeitliche Sprünge passierten. Das war vermutlich beabsichtigt und ein stilistisches Mittel, es hat mir an sich auch ganz gut gefallen, doch es riss mich auch aus dem Lesefluss. An einer Stelle blätterte ich zurück, weil ich den Eindruck hatte, dass die Seiten in falscher Reihenfolge hintereinander kamen, und das ist doch ein Punkt, der nicht gerade für ein stilistisches Mittel spricht.

„Und Franz nickt, obwohl er nicht begreift, er würde zu allem nicken, er staunt, kann die Augen nicht abwenden, sein Blick ist hungrig, hat einen Appetit, den Franz nicht gekannt hat bisher, der mehr will, nicht satt zu kriegen ist.“ (S. 40)

„Ein Gefühl der Wärme geht aus von den dreien, eine Wärme, die durch ihre Worte und Gesten in ihn eindringt, die sich in seinen Magen setzt und dort einen Klumpen Ruhe formt, einen warmen, glatten Stein.“ (S. 90)

„Ich fühle mich unglaublich müde, ich fühle mich alt, wir sind alle alt hier, auf eine gewisse Art und Weise.“ (S. 215)

Die Sprache, die mich sowieso schon von sich überzeugt hatte, setzte noch einen drauf, indem sie mich mit den Charakteren (allen voran mit dem Großvater Franz) so fabelhaft mitfühlen ließ. Er lässt sich in Metaphern aus, die auf mich nie „zu viel“ wirkten, weil sie genau das richtige Mittel waren, um die krassen Situationen und menschliche Reaktionen darauf einzufangen. Ich musste nicht lesen, was eine Figur gerade empfand, ich konnte es fühlen. Und das ist einer der größten Pluspunkte dieses Romans.

„Ein mögliches Leben“ ist ein beeindruckender Roman, der geschichtliche Perspektiven aufzeigt, die mir bis dahin fremd waren. Es ist ein Roman über Menschen und das, was sie beeinflusst in ihrem Leben, und all das in wirklich schöner Sprache. Dass mir das letzte Fünkchen zur Begeisterung fehlt, hängt vermutlich nur mit der oben erwähnten Irritation beim Lesen zusammen, die mir von Zeit zu Zeit den Flow nahm.