Rezension

Authentisch, anders, intensiv

Die Farbe von Milch
von Nell Leyshon

Bewertet mit 4 Sternen

1830. Die 14jährige Mary ist die jüngste von vier Töchtern einer Bauernfamilie. Als wäre die Landarbeit und das Leben mit einem verkrüppelten Bein nicht schon hart genug, leidet Mary auch unter dem brutalen Vater, ein Tyrann wie er im Buche steht. Beistand von der Mutter ist nicht zu erwarten, den Schwestern untereinander fehlt der Zusammenhalt. Zuneigung bekommt Mary nur vom kranken, querköpfigen Großvater und der Hauskuh, an deren warme Flanken sie sich gerne in kalten Nächten lehnt.

So beginnt "Eine Farbe von Milch", eine Geschichte über der von Anfang an ein Gefühl von Einsamkeit, emotionaler Kälte und Machtlosigkeit liegt. Kleine  Andeutungen lassen schnell eine ungute Vorahnung aufkommen.

„Ich will erzählen was passiert ist aber ich muss aufpassen, dass ich nicht zu hastig vorpresche wie die Kühe am Weidengatter denn sonst komm ich ins Stolpern und falle (…)“ S. 7

Nell Leyshon erzählt rückblickend, in Ich-Form, mit der einfachen, ungebildeten Stimme eines Bauernmädchens. Sie verzichtet dabei vollständig auf Anführungszeichen, folgt keinen klaren Kommaregeln und schreibt in kurzen Hauptsätzen, die reihenweise mit „unds“ verbunden sind. Mary drückt sich mit den begrenzten Möglichkeiten aus, die ihr zur Verfügung stehen. In einer Zeit, in der Frauen kein Recht auf Bildung und eigene Bedürfnisse zugestanden wird, wo jede Form von Individualität nur störend ist, da fehlen auch die Worte dafür. Und so wirkt der Text oft wie ein stetiger Ablauf von Ereignissen. Flüssig zu lesen war er für mich erstmal nicht.

Es spricht demnach für die Geschichte, dass ich mich, einmal darin angekommen, nur schwer von ihr lösen konnte. Mit gut 200 Seiten ist das Buch recht kurz, die erzählerische Dichte dafür groß. Mary wird von ihrem Vater an die Familie des örtlichen Pfarrers verschachert, als Dienstmädchen, um sich um die totkranke Pfarrersfrau zu kümmern. Das will sie nicht. Lieber möchte sie auf dem Hof ihrer Eltern bleiben, auch wenn es dort kaum etwas gibt, was mit einem Gefühl von „Familie“ gleichzusetzen wäre. Mary braucht aber nicht viel, um glücklich zu sein. Sie ist von Natur aus zufrieden mit sich und der Welt, ehrlich und geradeheraus. Sie wirkt wie ein Fremdkörper, sowohl in der hinterwäldlerischen Bauernfamilie, als auch im feinen Haushalt des Pfarrers. Aus ihren Worten spricht der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Damit ist sie ihrer Zeit leider lange voraus.

Nell Leyshon verleiht Mary eine echte Persönlichkeit, die man schnell lieb gewinnt und die sogar eine leichte, humorvolle Note ins Spiel bringt. Das ist es auch, was den Roman besonders macht. Obwohl ich mit dem Rhythmus des Schreibstils nicht völlig verschmelzen konnte, hatte Marys "Stimme" etwas Reizvolles, Eigenständiges, das sehr gut passte. Nur - und das ist wirklich schade - konnte ich mich nicht ganz unvoreingenommen auf ihre Geschichte einlassen, da der Klappentext einfach zuviel vorweg nimmt. Es ist sicher fair, den Leser über den Verlauf nicht völlig im Unklaren zu lassen. Das Ende wird damit aber zu berechenbar.

Fazit: Marys Geschichte steht in der Tradition feministischer Literatur, die mit einer besonderen Stimme für Gleichberechtigung und Bildung eintritt, nach dem Zuklappen eine unglaubliche Wut hinterlässt und nicht so schnell vergessen sein wird. Sprachlich ist sie ungewöhnlich, fast schon eigenartig, aber glaubwürdig. Vor einigen Jahrzehnten wäre das Buch ein Skandal gewesen. Heute ist es ein Beitrag von vielen zu einem Thema, das es wert ist, immer wieder gehört zu werden. Lesenswert ist der Roman auf jeden Fall. Für die ganz große Begeisterung fehlte ein bisschen Ungewissheit zum Verlauf, was ich auch dem Klappentext ankreiden muss.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 29. Januar 2018 um 19:20

Erzählerische Dichte - das stimmt! Und die Eigenständigkeit von Marys Stimme - das gefällt mir. Gut ausgedrückt. Nur: feministicher Roman: da bin ich nicht bei dir. Wie du selbst sagst, vor 30 Jahren wäre es so gewesen, jetzt hat die Autorin keine andere Absicht mehr, als auf sich aufmerksam zu machen ;-). Was ihr ja gelungen ist. Aber sie hat diese Art von Roman nicht erfunden, Margaret Atwood wars.

lex kommentierte am 01. Februar 2018 um 23:29

Wanda, schau dir mal das Interview an, wenn du magst. Natürlich geht es auch um künstlerische Ziele, bestimmt will man auch schocken. Das ist für mich kein Widerspruch. Die Geschichte ist für mich trotzdem nicht sinnfrei, ich habe eine Absicht unterstellt. Du hast sie abgesprochen...

https://www.youtube.com/watch?v=BQKT5_rDCoI

Ich mag deine Kommentare in den Leserunden übrigens sehr. Sie schärfen immer den Blick! :-)