Rezension

Authentisch, nachvollziehbar - beeindruckend!

Mein Leben als Sonntagskind - Judith Visser

Mein Leben als Sonntagskind
von Judith Visser

Bewertet mit 5 Sternen

Dieses Buch ist ein wahrer Wälzer, und doch hätte ich noch stundenlang weiterlesen mögen um zu erfahren, was Jasmijn in den restlichen 20 Jahren seit 1999 so passiert ist. Doch die Autorin konzentriert sich hier rein auf die Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin, die stark autobiografisch ist. In einem Interview sagte sie, dass sie zwar einiges von sich selbst weggelassen, und auch einiges hinzu erdacht hat. Aber im Großen und Ganzen beschreibt sie hier ihr Leben, ihr Aufwachsen und Erwachsenwerden mit dem Asperger-Syndrom, ohne dass sie überhaupt weiß was das ist geschweige denn dass sie das hat.

Sie weiß nur, dass sie anders ist. Ihre Mutter sagt es ihr ja oft genug, begleitet von einem kleinen Seufzer, "So bist du eben". Erstaunlicherweise akzeptieren ihre Eltern das aber, wobei man immer bedenken muss: sie wussten ja gar nicht, dass Jasmijn nicht einfach nur eigen ist sondern eben Asperger hat. Dennoch waren sie absolut verständnisvolle Eltern, die immer hinter ihrer Tochter standen! Sie versuchten nie sie zu ändern, sagten nie "jetzt reiß dich aber mal zusammen", sondern akzeptieren ihre Eigenarten und versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Lösungen zu finden damit Jasmijn ihre Umwelt leichter ertragen kann. Denn fremde Menschen, Gewusel, viele Stimmen, grelles Licht, starke Gerüche, Musik - all das ist für Jasmijn zu viel. Das macht es ihr schwer, Shoppingtrips im Einkaufszentrum, die Schuldisco oder selbst Essenseinladungen bei ihrer besten Freundin zu überstehen.

Jasmijn fällt es zudem schwer, sich auf mehr als eine Sache gleichzeitig zu konzentrieren. Sie vergleicht sich da an einer Stelle mit der "normalen Jasmijn", die in ihrem Kopf 'lebt' und sich eben ganz normal verhält. "Klar, sie konnte wie alle anderen die ganze Skala der Nebengeräusche herausfiltern, sich auf das eine Geräusch einstellen, das sie hören wollte, und den Rest vorbeifliegen lassen wie Bälle, die das Tor verfehlen. Dass bei mir alle Bälle trafen, wusste sie nicht. Mein Kopf war ein Tor ohne Torwart." 
Die reale Jasmijn braucht einen festgelegten und bekannten Ablauf. Sie muss sich auf jede Situation im Vorhinein einstellen, und sei es nur ein Besuch bei der Oma. Auch dort muss sie wissen, wer von der großen Verwandtschaft auch da sein würde. Denn im Kopf spielt sie ganze Szenen vorher durch, übt alles und legt sich ein Drehbuch zurecht - als wäre ihr Leben ein Theaterstück.
 
Wie sich diese überbordenden Situationen voller Sinneseindrücke für Jasmijn anfühlen, beschreibt die Autorin anhand zahlreicher Erlebnisse sehr eindrucksvoll und nachvollziehbar. Auch, wie kräftezehrend das für sie war (angesichts der Mengen an (ungesunder) Nahrung die sie verzehrte um einen anstrengenden Tag zu überleben wundert es mich sehr, dass sie anscheinend nie Gewichtsprobleme bekommen hat).

Erstaunlich fand ich dann aber, dass sich die Protagonistin nicht nur bewusst ist dass sie sich anders verhält. Sondern dass es eben diese "normale Jasmijn" in ihrem Kopf gibt, die sich all den Situationen wunderbar anpassen kann die ihr selbst so viele Schwierigkeiten bereiten. Sie beschreibt teilweise sehr detailliert, wie die normale Jasmijn reagiert hätte. Sie sagt ihr quasi vor, was sie jetzt 'normalerweise' tun sollte. Als Leser fällt es einem dann manchmal schwer zu verstehen, wieso Jasmijn trotz dieser inneren Soufleuse 'nicht über ihren Schatten springen' kann. Und anscheinend fragt sich das die Jasmijn in ihrem Kopf auch. "Komm, rief die Normale Jasmijn. Du kannst es doch. Doch sie verstand mich nicht. Ich konnte es eben nicht."

"Mein Leben als Sonntagskind" ist ein Buch, das mich sehr gut unterhalten hat. Viel mehr noch hat es mir aber vor allem das Leben - und vor allem Aufwachsen - mit dem Asperger Syndrom sehr verständlich und nachvollziehbar vor Augen geführt. Eine wahrlich beeindruckende Lektüre