Rezension

Authentisch und sprachgewaltig

Tauben im Gras - Wolfgang Koeppen

Tauben im Gras
von Wolfgang Koeppen

Bewertet mit 5 Sternen

Eine Erzählung des Scheiterns

"Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten, Niemand blickte zum Himmel auf."

1951, irgendwo in Deutschland [vermutlich München?]: Die Zerstörungen, die der zweite Weltkrieg mit sich brachte, belasten nach wie vor den Wiederaufbau: Armut, Isolation und Existenzängste bestimmen den Alltag. Im Verlauf eines einzigen Tages begleitet der Leser nahezu 30 Personen innerhalb der hektischen Dynamik und Anonymität der Großstadt; die meisten jedoch bleiben Nebenfiguren und dienen eher dazu, als Bindungsglied zwischen sieben, weitaus tiefer entwickelten Figuren, deren Denkweise direkt erlebt werden kann, zu fungieren. Obgleich der Roman keinesfalls handlungsarm ist, fällt mir eine Zusammenfassung sehr schwer, da die Gedanken der einzelnen Personen mehr Gewichtung haben und sich schließlich in Begegnungen mit anderen und im Umgang miteinander äußern. So lernt der Leser die unterschiedlichsten Charaktere aus diversen Milieus, wie bspw. den frustrierten Schriftsteller Philipp oder Washington Price, einen amerikanischen schwarzen Soldaten, kennen.

Im Vergleich zu anderen Nachkriegsbüchern fokussiert Koeppen die Gegenwarts- und nicht die Vergangenheitsbewältigung der Menschen und schildert von deren Flucht vor der Realität und/oder deren Wünsche, Zuflucht aus der beklemmenden Agonie zu finden.

"Schnäpse und Wein und entbehrter Schlaf gärten und gifteten in Alexanders Blut; sie klopfte ihm von innen den Schädel."

Koeppen vereint in seinem Roman viele Thematiken wie Fremdenhass, Religion (in einem negativen Licht), Mangel an Liebe, Isolation, Beziehungsunfähigkeit, Hoffnungslosigkeit, Abtreibung, Realitätsflucht usw - allem voran das Chaos, dass die damalige Gesellschaft widerspiegelt. Die Menschen begegnen sich, aber die Beziehungen untereinander scheinen angesichts des Verlustes an Perspektiven und der ständigen Ungewissheit bzgl. der Sicherheit sinnlos geworden sein. Hier ergibt der Titel des Romans Sinn – welchen, muss selbst herausgefunden werden. ;-)

Passend zum Chaos wählte Koeppen eine – meiner Meinung nach - beeindruckende und komplexe Struktur und Erzähltechnik: Die Geschichte weist keinen dauerhaften Erzähler auf, sondern besteht aus zig kleinen Abschnitten, in der jede Szene durch die Augen eines anderen Figur gesehen und erlebt wird. Der Leser selbst muss sich immer wieder aufs Neue zurechtfinden und herausfinden, von wem hier die Rede ist. Einzelne, sich wiederholende Merkmale der Figuren erleichtern die Zuordnung oftmals. Mit diesem Kunstgriff versetzt der Autor den Leser in die chaotischen Zustände jener Zeit und gibt ihm (sehr geschickt!) das Gefühl von Orientierungslosigkeit und Verwirrung. Inhalt und Form arbeiten hier Hand und Hand, was mir sehr gut gefiel, aber gewiss nicht jedermanns Geschmack trifft.

Die vielen einzelnen Szenen finden zudem beinahe gleichzeitig statt, die Figuren befinden sich zum Beispiel am selben Ort, begegnen sich aber nicht immer bewusst, da sie sich bspw. nicht kennen. Hierbei knüpfen die Szenen aneinander, gewähren einen fließenden Übergang. Da mir die Umschreibung schwerer fällt als gedacht, füge ich hier eine passende Textstelle ein, um dies und ebenfalls die Einführung einer neuen Figur zu verdeutlichen:

"Vielleicht würde er in dieser Stadt sterben. Eine Nachricht. Eine Notiz in den Abendausgaben. Ein paar Gedenkartikel in London, in Paris, in New York. Dieser schwarze Cadillac war ein Sarg. Nun streiften sie einen Radfahrer >o weh, er schwankt, er hält sich< - Er hielt sich im Gleichgewicht. Er balancierte, strampelte, lenkte das Rad in die freie Lücke, Doktor Behude, Facharzt für Neurologie [….]"

Diese (für mich zumindest) ungewöhnliche Erzähltechnik erinnerte mich während des Lesens an ein Blitzlichtgewitter, was u.a. von eingestreuten (vermutlich originalgetreuen) Schlagzeilen, die in der Erzählung oftmals aufblitzen und die allgegenwärtige Bedrohung, die politische und somit zwischenmenschliche Spannung noch greifbarer machen. Innerhalb mancher Passagen bedient sich Koeppen außerdem dem Stil des Bewusstseinsstroms, bei dem die Gedanken zunehmend an Grammatik und zusammenhängenden Reihenfolge verlieren.

Obgleich das Buch anhand der Fülle an Figuren und der im Vergleich wenigen Seiten vermeintlich wenig Raum zum Charakterisieren bietet, treten einige Figuren (hauptsächlich die oben bereits erwähnten sieben) deutlich hervor. Dies setzt Koeppen u.a. damit um, indem er die Sprachebene passend nutzt: Philipp, der Schriftsteller, bedient sich einer gehobenen Sprache, andere wiederum weisen ein beinahe ordinäres Deutsch auf.

Am meisten konnte mich jedoch Koeppens bildhafte Sprache begeistern. Der gesamte Text wirkte auf mich dynamisch und rhythmisch; viele literarische Stilmittel, wie bspw. Inversionen, Parataxe, Wiederholungen, Parallelismus. Die Betrachtungen Koeppens sind sehr direkt und schonungslos - so auch seine Sprache -, die Sätze lang und verschachtelt.

"Messalina schlief, aufgeschwemmt das Gesicht, die Augentusche verwischt, die Lider wie von Faustschlägen getroffen, die grobporige Haut, ein Droschkenkutscherteint, vom Trunk verwüstet."

Vermutlich könnte man noch viel mehr über diese Erzählung sagen; ich belasse es nun dabei und möchte jeden Interessierten ermutigen, diese hervorstechende Lektüre zur Hand zu nehmen. Mich beeindruckte und berührte dieses absolute Gefühl der Ohnmacht, deren einziges Lichtblick sowohl die Kunst als auch die Liebe ist; doch auch diese scheinen in der eisernen Faust des Zeitgeistes gefangen zu sein. Eine endgültige Deutung des Romans überlässt der Autor natürlich dem Leser.

Mit Freude stellte ich übrigens fest, dass 'Tauben im Gras' ein Fragment von Koeppens 'Trilogie des Scheiterns', bestehend aus 'Das Treibhaus' und 'Der Tod in Rom', ist.