Rezension

Bedrückend

Loyalitäten - Delphine de Vigan

Loyalitäten
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4 Sternen

Es ist eine bedrückende Geschichte, die Delphine de Vigan in "Loyalitäten" erzählt. Der Titel ist dabei durchaus themengebend, denn im Prinzip kreist die gesamte, aus vier Perspektiven erzählte Handlung um dieses eine Wort. Da ist zunächst der 12-jährige Théo, eigentlich der Protagonist des Romans. Trotz seines jungen Alters hat er schon viel mitgemacht. Die Trennung seiner Eltern stürzt ihn in eine tiefe Zerissenheit, die er mit Alkohol zu füllen sucht. Befindet er sich in der Obhut der Mutter, ist der Vater allein und niemand kümmert sich um ihn. Lebt er beim Vater, ist die Mutter einsam und verletzt - ein wöchentlich wechselndes Spiel, das der Junge nur verlieren kann. Denn wie soll er sich da auf eine Seite schlagen? 

Seine Lehrerin Helena wurde in ihrer Kindheit vom Vater misshandelt und hat daher umso feinere Antennen für das Leid ihrer Schüler. Théo möchte sie unbedingt vor dem drohenden Absturz bewahren, ihn beschützen - doch niemand will ihr so recht zuhören. Denn an sich hat der Junge ja keine schlechten Noten und zum Unterricht erscheint er ebenfalls regelmäßig. Kollegen und Schulleitung scheint das zu genügen, eine Tatsache, die Helena gleichermaßen fassungslos und wütend macht. 

Mathis sieht der Veränderung seines besten Freundes Théo hilflos zu. Wie kann er ihm helfen, ohne ihn an die Erwachsenen zu verraten? Aber inzwischen hat Mathis schon selbst keine Lust mehr auf das ständige Sich-Betrinken. Auch seine Mutter Cécile ist bereits stutzig geworden und beginnt, ihn auszufragen. Dabei steht diese plötzlich vor den Scherben ihrer Ehe und muss sich selbst neu definieren. Wie soll sie gleichzeitig ihren Sohn retten, wenn dessen Vater immer nur lapidar verkündet, sie übertreibe doch. Und will sie tatsächlich zu solch einem Mann noch länger loyal sein? 

Die Autorin zeichnet ein düsteres Bild in ihrem Roman. Eigentlich gibt es keine Hauptperson, die ein normales, glückliches Leben führt. Die Erwachsenen sind ausnahmslos unglücklich oder unzufrieden und tragen mehr oder minder große Geheimnisse mit sich herum. Mittendrin die beiden 12-Jährigen, die nicht wissen, wie sie mit all dem umgehen sollen. Man muss sich bei der Lektüre immer wieder vor Augen halten, wie jung diese zwei sind und wie erschreckend es ist, dass sich Kinder schon in diesem Alter in den Alkohol flüchten. Doch von wem sollen sie denn auch den richtigen Umgang mit Problemen lernen, wenn nicht einmal die eigenen Eltern ihnen das vorleben können? 

Und so kämpft Helena einen aussichtslosen Kampf. Einen Kampf gegen Kollegen, die es lieben, ihre Schüler zu demütigen. Gegen den Schulleiter, der sich bloß nicht zu weit aus dem Fenster lehnen will. Und gegen Eltern, die nicht wahrhaben wollen, dass ihre Söhne ihretwegen leiden. Es sind zahlreiche Themen, die in dieser Geschichte zur Sprache kommen: Gewalt, Missbrauch, Scheidung, Alkoholsucht, Arbeitslosigkeit, Ehebruch usw. Der Schreibstil ist durch die wechselnden Perspektiven sehr sprunghaft und doch immer nah an den Charakteren. Die beiden Frauen erzählen emotionaler und aus der Ich-Perspektive, die beiden Jungen schmuckloser und aus der Er-Perspektive. 

Unaufhörlich steuert die Handlung auf die unvermeidliche Katastrophe zu. Bei jeder umgeblätterten Seite bereitet man sich als Leser auf das Schlimmste vor - und doch lässt einen das Ende schließlich mit gemischten Gefühlen zurück. Ich nehme an, Delphine de Vigan wollte gerade diesen Effekt erzeugen, dennoch hätte ich mir für die Geschichte einen anderen Schluss gewünscht. Aber wie in der Handlung selbst bekommt man im Leben eben nicht immer das, was man möchte. 

Fazit: Ein bewegender Roman mit einem unbefriedigenden Ende