Rezension

Beeindruckend intensives Familienepos

Das achte Leben (Für Brilka)
von Nino Haratischwili

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Ja, wenn der Osten einen einmal umarmt und festgehalten, wenn man sich einmal am Osten verschluckt hatte, dann blieb er.“
S. 579

Wow, was für eine Geschichte! Nino Haratschwili nimmt den Leser mit auf eine Reise, die kurz vor dem ersten Weltkrieg in Georgien beginnt und über politische Umbrüche, Revolutionen und ganz persönliche Katastrophen bis ins Deutschland der 90er Jahre führt. Über diesen enormen Zeitraum folgen wir sechs Generationen von Frauen der Familie Jaschi, mit denen es zu keine Zeitpunkt langweilig wird.

Alles beginnt mit Stasia, die von einer Karriere als Tänzerin träumt und im jugendlichen Überschwang einen Oberstleutnant heiratet. Der Zeitpunkt ist ungünstig, Krieg steht vor der Tür und trennt das junge Paar bald nach der Hochzeit. Schnell macht sich Enttäuschung breit über die Liebe, die nicht zu retten war, über die unerfüllten Träume und die eigene Tatenlosigkeit. Nebenbei gerät Stasias bildhübsche Schwester Christine ins Visier eines mächtigen Politikers, mit dem man sich lieber nicht anlegt, wenn einem sein Leben lieb ist. Und schon bald jagt ein Drama das nächste.

So will Stasia, die schon den Mann an den nicht enden wollenden Krieg verloren hat, nicht auch noch den Sohn verlieren und wagt sich mitten hinein in die Wirren des zweiten Weltkriegs. Doch während sie weg ist geraten ihr Ziehsohn und ihre Tochter in größte Gefahr. Während einem Teil der Familie durch das Regime größtes Leid zugefügt wird, steht Kostja, Stasias Sohn, unumstößlich hinter der Regierung. Vorwürfe, Unverständnis und Leid sind das Ergebnis, was auch vor den nachfolgenden Generationen keineswegs Halt macht.

„Im Flüsterton sprachen sich die Bäume ab und erhängten sich gegenseitig an den eigenen Ästen. Vögel fielen vom Himmel, weil sie beim Anblick des Reigens das Fliegen verlernten, und Kinder wurden schlagartig erwachsen und putzten Granaten. Tränen waren selten und teuer geworden. Nur Fratzen gab es kostenlos.“
S. 218

„Für Brilka“ war teilweise härterer Tobak als ich vermutet hätte. Was den Figuren hier widerfährt, ließ mich das ein oder andere mal schwer schlucken! Dabei sind die Dynamiken innerhalb der Familie großartig beschrieben. Und es ist wunderbar wie stark Haratschwili ihre Figuren mit dem Zeitgeschehen verflechtet. Man lernt so viel beim lesen, fühlt sich aber nie belehrt. Eindringlich bis hin zum Gänsehautfaktor, ausladend und üppig beschreibt dieser Roman Szenerien, Personen und Politik, bleibt dabei aber immer leichtgängig.

Am liebsten habe ich über Stasia, Christine und Kitty gelesen, habe mich aber auch unheimlich gerne in meiner wachsenden Abneigung gegen Kostja gesuhlt. Die Erzählperspektive war wunderbar gewählt und die kleinen Fetzchen magischen Realismus haben mich gerührt. Auch Haratschwilis Sprache, mochte ich gerne. Ich streiche mir nicht oft etwas an, aber hier konnte ich teilweise nicht anders.

„Das Russisch schmeckte nach einer endlosen Weite, nach Weizenfeldern, nach Einsamkeit und Illusion. Georgisch aber schmeckte staubig, voll, übervoll nahezu, und manchmal auch nach einem Versteckspiel im Wald.“
S. 1095

Etwas Punkteabzug gibt es allerdings für den Anfang. Hier hat mich Erzählerin Nizas pathetische und ausschweifende Einleitung gestört. Es braucht etwa 90 bis 100 Seiten, bis einen die Geschichte richtig packt. Das ist eindeutig zu viel. Interessanterweise findet sie am Ende wieder in denselben Ton zurück. Da hat es nicht mehr so gestört, denn nachdem man sich zusammen mit Niza durch Jahrzehnte ihrer ausgesprochen leidvollen Familiengeschichte gekämpft hat, ist etwas Pathos durchaus angebracht.

Wer gerne mit Haut und Haar in andere Leben eintaucht, wer Familiengeschichten liebt und sich für Zeitgeschichtliches auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen interessiert, wer einen lange Atem hat und eine Portion Tragik verträgt, der ist hier absolut richtig.