Rezension

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Beeindruckender Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung

Frühe Stücke - Max Frisch

Frühe Stücke
von Max Frisch

Bewertet mit 5 Sternen

"Nun singen sie wieder" machte den Schweizer Schriftsteller Max Frisch in Deutschland rasch bekannt. Das Drama, welches die verschiedenen Perspektiven von Tätern und Opfern des 2. Weltkriegs beleuchtet, entstand bereits 1945 und entfachte seinerzeit sehr positive Reaktionen. Der Autor verwischt gekonnt die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld und hinterlässt dabei ein beklemmendes Bild.

(Vorbemerkung: Diese Rezension bezieht sich nur auf das Drama Nun singen sie wieder. Ebenfalls in der Ausgabe der frühen Stücke Max Frischs enthalten ist das Drama Santa Cruz, welches vom Gegensatz zwischen bürgerlicher und Künstlerexistenz erzählt.)

Der junge Soldat Karl erschießt eine Gruppe Geiseln, die im Zeichen ihres Untergangs anfangen zu singen. Der Gesang der Getöteten lässt ihm seit dem keine Ruhe mehr. In der Heimat warten unterdessen seine Frau und sein kleines Kind im Luftschutzkeller auf die Rückkehr des Geliebten. Eine Gruppe junger Flieger macht sich derweil bereit für ein weiteres Bombardement - nicht ahnend, dass sie ihren Auftrag nicht überleben werden.

Gleich mehrere Erzählstränge eröffnen sich am Beginn des kurzen Dramas, doch schon relativ schnell werden sämtliche Fäden zueinander geführt. Alle Protagonisten des Stücks treffen sich nach ihrem Tod in einer Art Unterwelt wieder und ringen dort mit Fragen nach Schuld, Verantwortung und Versöhnung. Es ergibt sich dabei ein sehr befangenes Bild, besonders wenn die Toten vergeblich versuchen die Lebenden vor falschen Rückschlüssen zu warnen.

Im Gespräch mit seinem Vater sagt Karl: „Nichts befreit uns von der Verantwortung, nichts, sie ist uns gegeben, jedem von uns, jedem die seine; man kann nicht seine Verantwortung einem andern geben, damit er sie verwalte. Man kann die Last der persönlichen Freiheit nicht abtreten - und eben das haben wir versucht, und eben das ist unsere Schuld.“

Der Stil des Dramas ist als ein Frühwerk des Autors noch stark gezeichnet von poetischer Metaphorik. Nach Santa Cruz handelt es sich hierbei erst um Frischs zweites Theaterstück, welches sich vor allem durch schlichte Tiefe und ruhige Innerlichkeit auszeichnet.

Schuldzuweisungen unterlässt Frisch komplett. Keiner der Protagonisten wird bewusst negativ gezeichnet, über allem schwebt ein neutraler, kühler Blick. Was führt die Leute dazu, schreckliche Dinge zu tun?  Welche Verantwortung trägt der Einzelne? Ist eine Versöhnung denkbar? Der Autor stellt uns vor die Trümmer, die  existenzielle Fragen in Angesicht von unmenschlichen Gräueltaten in uns hervorrufen. Das Stück stellt dabei einen sehr außergewöhnlichen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung dar, der einen noch Tage nach der Lektüre beschäftigt.