Rezension

Beeindruckender Roman über einen unfreiwilligen Spion

Der Empfänger - Ulla Lenze

Der Empfänger
von Ulla Lenze

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Eine ungewöhnliche und faszinierende Mischung aus Familiengeschichte und historischem Spionageroman ist Ulla Lenzes (46) fünftes Buch „Der Empfänger“, das kürzlich im Klett-Cotta-Verlag erschien. Aus überlieferten Briefen und dem Lebenslauf ihres Großonkels entwickelte sie die wechselvolle Lebensgeschichte eines jungen Auswanderers, der aus purer Gleichgültigkeit und politischem Desinteresse in New York eher versehentlich zum Mitläufer der Nazis und unmerklich zu einem Rädchen im Getriebe deutscher Spionage wird. Es ist die Geschichte eines „kleinen Mannes“, der 1939 durch eine unüberlegte Entscheidung unerwartet, unbedarft und wehrlos zwischen die Fronten der kriegführenden Parteien gerät.

Bereits Anfang der Zwanziger Jahre war Josef Klein als junger Mann aus dem Rheinland in die USA ausgewandert. Doch richtig „angekommen“ ist er auch 1939 noch nicht. Er blieb alle Jahre ein heimatloser Niemand, von den Amerikanern nicht angenommen, den deutschen Emigranten fern geblieben, die vor Kriegsbeginn in antisemitischen und rassistischen Gruppierungen aktiv sind. Josef Klein lebt davon unberührt sein Leben im multikulturellen Harlem, liebt den Jazz und pflegt sein Hobby als Amateurfunker. Doch ausgerechnet seine technische Fähigkeiten als Funker fallen einer solchen Nazi-Gruppe auf, die ihn ohne sein Wissen für ihre Spionagetätigkeit ausnutzt. Viel zu spät erkennt Josef das Verhängnis seiner unbedachten Mitwirkung, meldet dies dem FBI, das ihn als Doppelagent verpflichtet. Nach Kriegseintritt der USA wird Josef auf Ellis Island interniert, erst 1949 nach Deutschland abgeschoben, wo er in Neuss im Haus seines Bruders aufgenommen wird. Doch auch hier bleibt der Entwurzelte heimatlos und setzt sich mit Hilfe früherer Nazi-Kontakte aus New York zunächst nach Argentinien, dann nach Costa Rica ab. Erst dort entwickelt der inzwischen über 50-Jährige nach längerem Aufenthalt heimatliche Gefühle. Doch auch hier lässt ihn seine Vergangenheit nicht ruhen: Sein Bruder schickt ihm eine Stern-Reportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika.

„Der Empfänger“ ist die Geschichte eines unfreiwilligen Agenten und Mitläufers ohne Überzeugung oder Schuldbewusstsein. Auch in Lenzes Roman, der kapitelweise zwischen New York (1939/1940), Deutschland (1949/1950) und schließlich Lateinamerika (1953) wechselt, geht es wie in den meisten Büchern über die Zeit des Nazi-Regimes und der Nachkriegsjahre um Schuld und Moral, um Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Aus Josefs Sicht waren es die anderen, die ihn missbraucht und nicht sein Leben haben leben lassen. „Einfach ein Mensch sein, dachte er. ... Einfach sein. Irgendwann kam die Einsicht, dass einfaches Sein das Schwierigste war. Alle wollten irgendetwas aus einem machen - und sei es, einen Deutschen, der nichts dafür konnte, Deutscher zu sein.“ Die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld sind fließend: Je nach Betrachtungsweise war er Täter, aber auch Verräter. Im Grunde blieb er ein Niemand, ein „Empfänger“ von Weisungen anderer, die er gefällig und bedenkenlos ausführte, um im Alltag seine Ruhe zu haben. Ulla Lenzes Roman hat keinen Helden. Vielleicht ist gerade dies das Einzigartige und Beeindruckende, vielleicht sogar Erschreckende an ihrem Buch: Josef Klein könnte jeder sein, jeder von uns.