Rezension

Beeindruckendes und wichtiges Buch

Gehen, ging, gegangen
von Jenny Erpenbeck

Bewertet mit 5 Sternen

„Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“

Gehen, ging, gegangen
Was hat Konjugation deutscher Verben mit dem Leben eines Flüchtlings zu tun?
Ist es, dass Verben in der Vergangenheitsform einen "Freund" haben und in der Gegenwart alleine dastehen, so wie die Geflohenen auch ihre Familie und Freunde von früher zurücklassen mussten und jetzt alleine sind?

Richard, frisch emeritierter Professor für alte Sprachen, seit einigen Jahren verwitwet, lebt alleine in einem Haus an einem See am Berliner Stadtrand. Er hat seine festen Gewohnheiten, lebt viel in seiner Gedankenwelt und Erinnerung, an früher, noch zu DDR Zeiten. Ankommen muss er erst in seinem Leben nach der Universität. Oft quält ihn die Frage, wie er seine Zeit ausfüllen soll.

Bis nahezu zufällig ein Thema für ihn immer präsenter wird, die Flüchtlingsproblematik. Richard schließt Bekanntschaft mit einigen Afrikanern, deren Anliegen ist, sichtbar zu sein, wahrgenommen zu werden.

Richard beginn in seiner fundierten wissenschaftlichen Methode einen Fragenkatalog zu erstellen, begibt sich regelmäßig in die Asylunterkunft und befragt die Männer, die allesamt aus ihren Heimatländern in Afrika fliehen mussten, Familie und Freunde zurücklassen mussten.

Schon bald verlässt Richard seine Wohlfühlzone, involviert sich immer mehr in die Geschichten und Schicksale der Männer. Zunächst gibt Richard für sich den Männer Namen aus der Mythologie oder Kunst, nennt sie den Blitzeschleuderer, Tristan oder Apoll - nur Karon heißt tatsächlich so – doch mit der Zeit kann er zu jedem eine individuelle Beziehung aufbauen, hilft mit Deutschunterricht, Begleitung zum Anwalt, finanziell.

Doch die Wirklichkeit heißt, Bürokratie, Abschiebung, Duldung, Dublin II, Vorschriften, Gesetze, Machtlosigkeit, das Einzelschicksal ist unbedeutend.

Jenny Erpenbeck hat mit „Gehen, ging, gegangen“ ein aktuelles, wichtiges und nahegehendes Buch vorgelegt.

Drei Themen geht sie an, das Altern und die Sinnfindung im Alter, die Wende und natürlich das Flüchtlingsthema. Auf den ersten Blick sehr viel auf einmal. Aber näher betrachtet geht es immer um Veränderung, Zurücklassen von alten Gewohnheiten, Verlust und Neuanfang, in unterschiedlichen Ausprägungen.

Ich mochte das Eintauchen in Richards Gedankenwelt. Die schonungslosen Erzählungen der Flüchtlinge waren manchmal kaum auszuhalten. Gelegentlich musste ich das Buch beiseitelegen und durchatmen. Auch wenn nicht immer alles ausgesprochen wurde, war doch zu denken, was passiert ist. Im Gegenteil dazu präsentiert Erpenbeck Fakten, Gesetze wie eine Dozentin.

Mich hat dieses Buch stark beeindruckt.