Rezension

Beeindruckendes Zeugnis der Geschichte

Als wir unsterblich waren - Charlotte Roth

Als wir unsterblich waren
von Charlotte Roth

"Du, lass dich nicht erschrecken - in dieser Schreckenszeit.“

Diese beiden Zeilen von Wolf Biermann sind dem ersten Kapitel dieses Buches, der Geschichte von Alexandra im November 1989, vorangestellt.
Eigentlich ist Alexandra, kurz Alex genannt, ein eher zurückhaltender Mensch, aber als am Abend die Reisefreiheit verkündet wurde, lässt sie sich von Ihrer Freundin Heike anstecken und zum Gang über die Grenze in den Westen der Stadt bewegen.  Dort begegnet ihr Oliver und diese Begegnung löst Gefühle in ihr aus, die sie so wohl noch nie verspürt hat. Nein, Erschrecken ist das nicht, eher Vertrautheit.
Umso mehr aber erschrickt Momi, Alex mittlerweile 93jährige Großmutter, die ihr stets auch Freundin und Mutterersatz war, bei Olivers erstem Besuch. Als Momi ihn das erste Mal sieht, kann sie nur noch ein immer wiederkehrendes NEIN stammeln. Sie lässt weder Oliver noch Alex in die Wohnung; nachdem Oliver sich auch mit seinem Nachnamen Schramm vorgestellt hat, eskaliert die Situation vollends. Momi kann nur noch schreien:“ Nein!  Nicht Schramm. Nicht Schramm“, bevor ein ernsthafter Zusammenbruch sie auf die Intensivstation des nächsten Krankenhauses bringt.
Nach diesem dramatischen Einstieg begibt sich das Buch zurück in das Berlin im August 1912. Paula Klein erlebt im Kreise ihrer Freunde einen der letzten schönen Tage im neuen Strandbad am Wannsee. Sie ist erst 16 Jahre alt und damit ein paar Jahre jünger als die meisten aus diesem Freundeskreis, zu dem auch Clemens Kamphausen zählt. Clemens, aus einem betuchten Elternhaus, ist schon früh politisch engagiert, vernachlässigt sein Studium und wird ein glühender Anhänger der Sozialdemokraten. Er schreibt für den Vorwärts und ist in der Lage, die Menschen mit feurigen Reden zu beeindrucken. Paula folgt ihm in vielen seiner Ansichten, engagiert sich schon früh für geschlagene und verarmte Frauen, später wird sie Vorläufer der heutigen Frauenhäuser betreiben. Auch für sie ist „die Partei“ eine Zeitlang so wichtig, dass sich viele andere Dinge in ihrem Leben ihren Aufgaben für die Partei unterordnen müssen.
Clemens und Paula, untrennbar und als Einzelne schon bald nicht mehr denkbar, kommen aber trotzdem nicht wirklich zusammen. Die Einflüsse und Bedürfnisse Dritter sind immer wieder so stark, dass sie schließlich die Konsequenzen ziehen.

Zwischen diesen beiden Handlungssträngen, von denen der historische Teil der bedeutendere und deutlich umfangreichere ist, erleben wir die Zeit des ersten Weltkriegs, der parteipolitischen Auseinandersetzungen in der jungen Republik und die große Enttäuschung, die das Kriegsende und die Jahre danach für diese jungen Leute bedeuten. Was bleibt noch von ihren Idealen und großen Zielen, was bleibt von den Gedanken so bedeutender Persönlichkeiten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, von denen sie so beeindruckt waren.
Die Ereignisse auf der politischen Bühne der Zeit, die zumeist sehr einseitige Klientelpolitik der unterschiedlichen Parteien, der Verrat der eigenen Idealen bis hin zum Aufscheinen einer noch viel schlimmeren braunen Zeit in Deutschland erzählt Charlotte Roth mit immer größer  werdender Spannung, angesiedelt immer um die Clique von Clemens und Paula und deren Freunden und Familien herum, auf sehr eindringliche Weise. Fast hat man das Gefühl, mitten in den Geschehnissen verhaftet zu sein und diese selbst mitzuerleben.
Eine Auflösung von Paulas/ Momis Geschichte erfahren Alex und ihr Freund Oliver erst, als Momi sich im Krankenhaus entschließt, endlich über ihre Vergangenheit zu sprechen und von den Ereignissen damals zu erzählen.
Am Ende steht nicht nur eine Art von Versöhnung zwischen den Personen, wobei eigentlich ohne Bedeutung ist, ob diese noch leben oder schon lange Jahre tot sind. Entscheidend ist, dass durch die Gespräche darüber die Schatten der Vergangenheit aufgelöst werden und den Platz für etwas Neues frei machen.

Ein sehr beeindruckender Frauen- und Familienroman, der aber nicht dort Halt macht, wo die „Männerthemen“ anfangen, sondern die Frauen aktiv mitgestalten lässt. Unbedingt lesen. Gern hätte ich noch mehr als fünf Sterne vergeben.