Rezension

Beengung wird in der Umarmung des Zusammenseins zu etwas Schönem

Augenblicke in Bernstein - Yoko Ogawa

Augenblicke in Bernstein
von Yoko Ogawa

Bewertet mit 5 Sternen

Yoko Okawa ist für mich Meisterin der Erzählung stiller Introvertiertheit. Fand ich "Der Herr der kleinen Vögel" durch die tiefe Bindung der beiden Brüder im Roman schon engumschlungen, so setzt "Augenblicke in Bernstein" diesbezüglich ein neues Maß.

Nach dem Tod der jüngsten Schwester werden drei Geschwister von ihrer alleinerziehenden Mutter mit in die abgelegene Villa ihres geschiedenen Mannes genommen. Sie erhalten neue Namen; Opal, Bernstein und Achat. Aus Sicht des mittleren Kindes Bernstein wird die Geschichte geschildert. Die abergläubische Mutter, die einen Hund für den Tod ihres kleinen Mädchens verantwortlich macht, schärft den Kindern ein, die schützenden Mauern des Grundstückes nie zu verlassen, weil der böse Hund vor dem Tore schon warte. So wird das Aufwachsen der Kinder nur auf diesem abgesteckten Areal von Bernstein erzählt.

Die Verkleinerung ihres räumlichen Bewegungsfreiraums nehmen die Kinder ohne Missfallen hin. Sie begnügen sich mit dem, was ihnen zum Zeitvertreib auf dem Grundstück der Villa begegnet. Die Kleidung der Kinder verziert ihre Mutter mit kindlichen Applikationen; Mähne, Kaninchenpuschel oder Flügel wie eine Fee charakterisieren die Kinder.
Täglichen Unterricht erlebt jedes der Kinder für sich, indem sie sich mit selbst ausgesuchten Themen aus den Enzyklopädien ihres Vaters beschäftigen, der Verleger war und eine Auswahl verschiedener Lexika herausgebracht hat.
Die Wissensbücher sind mehr als reine Lerninstrumente. Für Bernstein werden sie zur Begegnung mit seiner kleinen Schwester, die er auf den Rändern der Seiten zu zeichnen beginnt. Die Begegnungen mit der verstorbenen Schwester werden für alle Familienmditglieder gewissermaßen real, und erst innerhalb der Mauern der Villa wieder möglich.
Für die Mutter, Opal und Achat ist die von Bernstein gezeichnete Schwester auf den Buchseiten nach wie vor das kleine Mädchen von früher. Im gewissen Maße altern auch die Geschwister nicht; ihre Kleidung wird ihnen im Laufe der Jahre zu klein, aber sie tragen sie weiterhin. Von der Mutter werden sie weiterhin behütet, obwohl sie täglich viel Zeit auf sich allein gestellt ist, wenn die Mutter arbeiten muss. Nur subtil erlebt der Leser wie die drei Edelsteinchen ihrer zugedachten Rolle als beschützenswerte Kinder entwachsen, wie beispielsweise als Opal ihr Krönchen, das sie zusätzlich zu ihren Flügelchen trägt, im Morast begräbt und fortan nicht mehr im Bett ihrer Brüder schläft, sondern in einem anderen Zimmer.
Die Welt jenseits ihrer Mauer lernen die Kinder nur durch das Studium der Enzyklopädien kennen, von sich aus haben sie keinen Ansporn die Villa zu verlassen. Doch die Außenwelt ist groß, als dass die Mauern ihr ewig standhalten könnten.

Wie hinterlässt einen ein Buch, in dem es so wenig Handlung, und doch so viele (innere) Begebenheiten gibt? Definitiv melancholisch. Die letzte Seite verlassend, fühle ich mich den Mauern, die ich nur lesend betreten habe, ein wenig entrissen. Es war eine wundervolle Leseerfahrung, die mich sehr nahe an meine erste Begegnung mit Ogawa geführt hat.
Ihr Schreibstil hat für mich einen Ausdruck, als ob man vorsichtig ein Küken anheben wolle ohne ihm weh zu tun. Ich schätze das Feine, das Unaufdringliche ihrer Schilderungen, die ohne große Abenteuer auskommen, um lesenswert zu sein.