Rezension

Begnadeter Erzähler, der Kirchhoff

Widerfahrnis
von Bodo Kirchhoff

Bewertet mit 5 Sternen

Ich stelle meine Rezi nocheinmal ein, warum sie hier nicht gelistet wurde, ist mir ein Rätsel.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe bei meinem ersten Kirchhoff, aber bestimmt nicht das: Wiedererkennen.

Es gibt sie also doch noch, obwohl ich sie verschwunden glaubte, richtige Erzähler nämlich, Autoren, die mittels Sprache aus wenigem viel machen, deren Romane eine Banderole um den Bauch haben müssen, auf der mit roten Lettern steht: Kunst!

Aber sie könnten tatsächlich am Aussterben sein. Denn der Autor, geboren 1948, ist von der alten Garde und weiß es. Und ich weiß es. Die Zeiten haben sich geändert. Und darum schiebe ich sofort mein Lieblingszitat aus dem Buch nach:

„Wissen Sie, dass der immer verbreiterte Wunsch, den eigenen Namen nicht bloß am Türschild, sondern auch auf einem Buchdeckel zu sehen, der Tod des guten Buches ist?"

Dies sagt Julius Reither, seines Zeichens Verleger und Buchhändler, der sowohl Verlag wie Buchhandlung aufgeben musste, eben, weil es schlechte Bücher wie Sand am Meer gibt und die Selbstpublisher dem guten Buch das Wasser abgraben. Und er sagt es zu Leonie Palm, der Frau, die ein Hutgeschäft aus ähnlich gelagerten Problemen aufgegeben hat. Die er unversehens trifft, deren Begegnung ihm eines Tages widerfährt und so nimmt die Novelle ihren Ausgang und ihren Lauf.

Ein Roadmovie beginnt, in dem Bodo Kirchhoff akribisch Alltag erzählt, ausgiebig Landschaft beschreibt und mit seinen Figuren nachdenkt. Wo allerhand auf den Tisch kommt, melancholisch, sanft, intensiv.

Das Buch ist kurz, es ist ja auch nur eine Novelle, es passiert nichts, aber ich sehe alles vor mir auf dem Weg nach Sizilien und dann passiert doch etwas, eine Kleinigkeit und die Dinge verändern sich. Wohin verändern sie sich? Das hätte auch mir passieren können, das hätte auch dir passieren können, uns, die wir reichlich älter sind als dieses Jahrhundert und schon einen guten Teil Leben im vergangenen Jahrhundert gelebt haben.

„Widerfahrnis“ ist nicht das Buch der klassischen, rasanten actionreichen Wendungen und doch hat es mich immer wieder den Atem anhalten lassen, hat Bodo Kirchhoff seine Erzählung immer intensiver und intensiver gemacht, dichter und dichter!

Ein Meister der Erzählung, das ist Bodo Kirchhoff. Der Autor gebraucht keine einzige abgegriffene Formulierung, jede Metapher ist ein Unikat. Bravo und danke!

Fazit: Nur Künstler können aus dem banalsten Alltag Kunst schöpfen. „Widerfahrnis“ ist ein Hochgenuß für Liebhaber echter, guter Literatur.

Mein bisheriges Lesehighlight 2016.

Zusatz am 17.10.16: SIEGER des DEUTSCHEN BUCHPREISES!

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
 

Kommentare

Emswashed kommentierte am 07. Juli 2020 um 11:42

Wie ein Gemälde, vor dem man verzückt tief seufzend steht? Ersetzt ja auch keine Tapete!

wandagreen kommentierte am 07. Juli 2020 um 12:23

Doch, tut es! Ja, genau so!