Rezension

Berührend, lebensnah und außergewöhnlich spannend

Die Frauen vom Schlehenhof - Judith Nicolai

Die Frauen vom Schlehenhof
von Judith Nicolai

Bewertet mit 5 Sternen

Nachdem die langjährige Beziehung zu ihrer Jugendliebe gescheitert ist, kehrt Hanka aus dem hektischen Berlin zurück in ihren idyllischen Heimatort Rothenbach, um sich dort in die tröstenden Arme ihrer Mutter zu flüchten, über Exfreund Tobi hinwegzukommen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Sie träumt von einer eigenen kleinen Goldschmiedewerkstatt und genießt das wohlige Gefühl, endlich wieder an dem Ort zu sein, der für sie den Begriff "Heimat" verkörpert. Schneller als gedacht schließt sie neue Bekanntschaften, trifft auf alte Freunde und steht sogar ihrem einstigen Schulschwarm gegenüber: Roman, dem Bruder ihrer Freundin Ellen, welcher inzwischen den alten Schlehenhof übernommen hat und mit den Renovierungsarbeiten vollends überfordert ist. Leider hat Roman sich wenig verändert – er ist immer noch genauso stur und unnahbar wir früher. Doch als Hanka die Gelegenheit erhält, ausgerechnet auf dem Schlehenhof, wo sie als Kind so viele glückliche Stunden mit Ellen und deren Oma verbracht hat, ihre eigene Werkstatt einzurichten, ist die Chance einfach zu verlockend – selbst, wenn sie dafür mehr Zeit mit Roman verbringen muss als ihr lieb ist.

Der Schlehenhof hat seinen Zauber nicht verloren und bald entführen Hankas Träume sie zurück in das Jahr 1945, als die zwei Flüchtlingsmädchen Greta und Johanna in Rothenbach ankamen. Willkommen waren sie nicht, nur zwangsgeduldet – dementsprechend hart war ihr Alltag. Aber alles schien zunächst besser als die Gräuel des Krieges. Hanka ist verwirrt: Warum sind ihre Träume so realistisch? Wieso hält sie immer öfter Gegenstände in den Händen, von denen sie geträumt hat? Haben Greta und Johanna etwa tatsächlich hier gelebt und wenn ja, was ist aus ihnen geworden? Weshalb träumt gerade Hanka, gerade jetzt von ihnen?

Judith Nicolai hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, der sich nicht so einfach in die üblichen literarischen Genres einordnen lässt; vielmehr wurden die besten, interessantesten, mitreißendsten Elemente aus mehreren Genres (historischer Roman, Frauenroman, Liebesroman, Familiensaga, Fantasy/Mystery) herausgefiltert und hier zu einem grandiosen Werk über Liebe und Freundschaft, Familienbande und Heimat, Traditionen und Neuanfänge zusammengefügt. Man kommt nicht umher, sofort in die Geschichte einzutauchen – und das, obwohl in zwei abwechselnden Zeitebenen erzählt wird. Diese sind allerdings so fließend miteinander verknüpft worden, dass sie die Handlung stetig vorantreiben ohne zu Verwirrungen zu führen. Mit Begeisterung habe ich die detaillierten, bildreichen Beschreibungen über das Städtchen Rothenbach aufgesogen! Nicht nur, dass man sich als Leser den Ort des Geschehens mühelos vorstellen kann - dank der ausführlichen und zugleich ungezwungenen, spielerisch in die Handlung eingebundenen Schilderungen fühlt sich das Lesen eher an wie ein Nachhausekommen, wie eine Rückkehr an einen vertrauten Ort. Der Schreibstil ist schlichtweg sensationell und ich habe mir noch beim Lesen vorgenommen, weitere Werke der Autorin auf meine Bücher-Wunschliste zu setzen.

Hanka ist eine sehr sympathische, aufgeschlossene junge Frau, die nicht nur weiß, was sie will, sondern auch das Herz am rechten Fleck hat. Sehr gefallen hat mir die liebevolle Beziehung zu ihrer Mutter sowie ihre Neugier, ihre Faszination mit der Vergangenheit. Die Dialoge, insbesondere jene zwischen Hanka und Roman, sind herrlich authentisch, oftmals amüsant; ebenso wurde bei den Dialogen in der vergangenen Zeitebene stets der richtige Ton getroffen. Mundart wurde in Maßen inkludiert und verleiht den Gesprächen zusätzlich Glaubwürdigkeit und Tiefe. Neben dem außerordentlich spannenden Thema Psychometrie wurden auch tragische Elemente in die Story eingeflochten; Freud und Leid liegen nah beieinander, so wie im echten Leben.

Bereits das Cover hatte mich neugierig gemacht, es gefällt mir unheimlich gut! Für mich erzeugt es eine schon fast melancholische, nostalgische Stimmung. Die Frisur der jungen Frau, das Haus selbst...alles wirkt so zeitentrückt und fernab von unserer Moderne - einfach aus einer früheren Generation, aber auf eine schöne, wohlige Art; ländliches Idyll, mit dem man ganz individuell bestimmte Werte verbindet. Man fragt sich, welcher Zusammenhang wohl zwischen der Frau im Sommerkleid und dem abgelegenen Bauernhaus besteht; was dort geschehen ist. Auch von der Farbwahl her ist das Cover sehr gelungen und erinnert an einen lauen Sommerabend. Der geschwungene Schriftzug wirkt klassisch schön und rundet den angenehmen Eindruck ab.  

Fazit: Dieser Roman ist eine Geschichte, die man geradezu verschlingen und einfach ungestört in einem Rutsch durchlesen möchte – so spannend, so mitreißend! Viel mehr als "nur" ein weiterer Liebes-/ Frauen-/ Geschichtsroman! Unbedingt lesen!