Rezension

Berührend und klug!

Eure Leben, lebt sie alle -

Eure Leben, lebt sie alle
von Sybille Hein

Eure Leben, lebt sie alle ein Roman von Sybille Hein (dtv)

 

Man kann sich die Vergangenheit nicht schöner wünschen. Aber hin und wieder ereignen sich Dinge, mit denen man sie heller ausleuchten kann. Je mehr Menschen ihre bunten Glühbirnen an die Leine hängen, desto besser. S.302

 

Genau das beschreibt diesen Roman schon ganz gut. Dann gibt es da noch einen fast unsichtbaren Faden, der sich durch das Leben der fünf Frauen zieht und sie somit auf schicksalhafte Weise miteinander verbindet. Ein Teil jeder Geschichte ist Jonas, Mariannes Sohn, der vor fast zwanzig Jahren ums Leben kam. Er lässt seine Mutter und vier Freundinnen zurück. Marianne, Ellen, Freddy, Luise und Johanna.

In sechs Runden, ähnlich einer Theateraufführung, erzählt Sybille Hein episodenhaft aus dem Leben jeder einzelnen Frau. Jede, bis auf Johanna, erzählt ihre Geschichte selbst. Innere Monologe, Selbstzweifel, Geheimnisse und Gedanken, Wünsche, Träume, Erkenntnisse oder auch nicht... So gewinnt man einen intensiven Einblick in das Leben und die Gefühlswelt der Figuren. Um diese Eindrücke zu schildern, bedient sich die Autorin einer wunderbar lebhaften Sprache.

 

Mit Ende zwanzig kann man mit ungebügelten Hemden aus dem Haus rennen, aber in seinem Alter sollte man darauf achten, zumindest die Verpackung knitterfrei zu halten. Klaus ist zweiundfünfzig. Er ist ein alter Mann. Und riecht nach Kohlrabi. (S.25)

 

Ein schnieker Dreiteiler: Hose, Weste. Sakko mit großen Schulterpolstern. Die Schaumstoffeinlagen überspielen kunstvoll, das man Böhms schrumpelkleinen Körper in einem solchen Kleidungsstück inzwischen suchen muss. (S.133)

 

Seit dem Gespräch mit Ellen fühlt es sich an, als würde ich Geschenkpapier aufreißen, wenn ich den Staub von den alten Sachen puste. (S.243)

 

Mr. Spock drückt seine Schnauze in einen der verbliebenen Jutesäcke. Auch er hat einen Wunsch an den Lefzen kleben, ich kann es ihm ansehen: Möge sich dieser Beutel öffnen wie Alibabas Höhle und die herausquellenden Wurstwaren den ganzen Dielenboden überspülen. (S.298)

 

Man hat das Gefühl selbst dabei zu sein. Und während des Lesens findet man ein wenig Marianne, oft Ellen, mehr Freddy, naja Luise und weniger Johanna in sich selbst. So habe ich es jedenfalls empfunden. Manche Situationen finden Zustimmung, über andere überdrehte Momente schüttelt man den Kopf. Doch so ist das Leben nun mal.

Letztendlich geht es nicht nur um Älterwerden. Diese Geschichte erzählt so viel mehr und ist eine einzigartige Hommage an die Freundschaft und das Zusammensein. Klare Leseempfehlung für diesen besonderen Roman!