Rezension

Berührender, autobiografischer Roman über das Suchen von Identität im fremden Land

Wer wir sind -

Wer wir sind
von Lena Gorelik

Bewertet mit 5 Sternen

Sie ist fast schon ein Rezensionsklischee, diese Liebe zum Buch ab Seite 1, aber - true story bei mir und Lena Gorelik. Es ist dieser einzigartige Erzählton, ihre ganz eigene Art und Weise, Worte zu diesen wertvollen Sätzen zusammenzufügen, die überraschen, anregen, abweichen, ganz anders enden als man zu Beginn vermutet hätte. Ihr Schreibstil, absolut mein Ding.

 

Lena Gorelik schreibt ihren autobiografischen Roman auf Deutsch und somit nicht in ihrer Muttersprache. Denn, und davon erzählt sie hier, aufgewachsen ist sie in St. Petersburg und erst mit 11 Jahren im Jahr 1992 gemeinsam mit ihrer Familie nach Deutschland eingereist. In ein Land mit einer fremden Sprache, in dem die Diplome ihrer Eltern nicht anerkannt werden, die Familie in einem Wohnheim lebt, sie selbst in der Schule die "andere" ist. Diese große Fremdheitserfahrung, vermittelt sie, indem sie Namen und Redewendungen durch kyrillische Zeichen ausdrückt, die Großmutter heißt so бабушка, Babuschka. Lena Gorelik erzählt die Geschichte einer Kindheit in der Sowjetunion, in der die Unstimmigkeiten einer kindlichen Selbstverständlichkeit unterworfen waren. Vom Dazu-gehören-Wollen in der deutschen Schule und wie das zum Nicht-mehr-dazugehören-Wollen in der eigenen Familie führt. Davon, wie schmerzhaft rückblickend die Erinnerung an ihre Scham für die eigenen Eltern ist.

 

Es ist ein Roman, nicht nur über Erinnerungen, sondern auch über das Erinnern. Über ihre Versuche, sich Gefühle ins Gedächtnis zu rufen, ein Annähern an die Wahrheit, von der jedes Familienmitglied seine eigene Version hegt und pflegt, über das Gegenständliche des Erinnerns, verbildlicht durch das Schränkchen im Wohnzimmer mit all den gesammelten Dingen der Vergangenheit, ergänzt durch die Leerstellen der Erzählung, die sie aus Respekt vor ihrer Familie offen lässt. Letzteres ist vielleicht das einzige (verständliche) Manko des Romans, dass ganze Handlungsstränge unerzählt bleiben, dass sie Neugier weckt für eine Gegenwart, die nicht ganz greifbar erscheint - am liebsten möchte man, dass Lena Gorelik weiter und weiter erzählt. Ein absolut bezaubernd-berührendes Buch, das ich euch ganz doll ans Herz legen mag.