Rezension

Berührender Roman

Ein ganzes halbes Jahr. Geschenkausgabe - Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr. Geschenkausgabe
von Jojo Moyes

Bewertet mit 4 Sternen

Lou ist 26 Jahre alt, wohnt noch bei ihren Eltern und hat noch nie außerhalb ihres Heimatstädtchens gewohnt. Nun hat sie ihren geliebten Job in einem Café verloren. Nach einigen Fehlversuchen, eine neue Stelle zu finden, nimmt sie die vom Jobcenter angebotene Stelle als Pflegehilfe bei Will Traynor an. Der Mittdreißiger ist durch einen Verkehrsunfall zum Tetraplegiker geworden, d.h. durch eine Rückenmarksverletzung kann er Arme und Beine nicht mehr bewegen und muss ständig betreut werden. Wills Familie ist reich und er war vor seinem Unfall beruflich erfolgreich und sportlich überaus aktiv. Die massive Einschränkung seiner Lebensqualität, die Schmerzen und Infektionen und die Abhängigkeit haben ihm seinen Lebensmut geraubt. Der flippigen Lou verhält er sich anfangs feindselig gegenüber, doch dann schafft sie es sein Herz zu erweichen und die beiden werden Freunde. Bis Lou eines Tages den Grund dafür erfährt, dass sie nur für sechs Monate eingestellt ist: Will möchte nach Ablauf dieser Zeit Sterbehilfe in der Schweiz in Anspruch nehmen. Lou ist der letzte Versuch seiner Familie, ihn umzustimmen. Lou stürzt sich in die Planung von Ausflügen und Unternehmungen während Will sie für neue Ziele und die große weite Welt begeistern möchte.

Jojo Moyes‘ Roman ist sprachlich sehr gut geschrieben und ihre beiden Protagonisten sind wunderbar dargestellt. Lou hat einen ausgefallenen Kleidungsstil und ist sehr unkonventionell, andererseits aber auch ein Familienmensch. Sie hat keinerlei Gedanken an ihre Zukunft verschwendet, bis das Café zugemacht hat. Will und seine Familie sind britische Upper-Class mit all ihrem Geld und ihrer Arroganz. Der Standesunterschied ist ebenfalls sehr gut dargestellt.
Durch die detaillierte Beschreibung von Wills Behinderung und ihrer Auswirkungen sowie von Lous anfänglichen Pannen (Rollstuhl kommt nicht über die Wiese etc.) wurde mir das alltägliche Leben von körperlich behinderten Menschen sehr nahe gebracht und hat mir vielfach die Augen geöffnet, auch mit der Beschreibung der Reaktion der nichtbehinderten Menschen. Lous und Wills Freundschaft ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass der Charakter mehr als der Körper zählt.
Schließlich macht in „Ein ganzes halbes Jahr“ das Thema Sterbehilfe einen großen Aspekt aus. Zufällig habe ich erst vor kurzem „Das unerhörte Leben des Alex Woods“ gelesen, welches sich ebenfalls der Sterbehilfe widmet. Letzteres Buch hat dies allerdings ausführlicher getan, während bei Jojo Moyes einiges vage bleibt (z.B. die Abläufe in der Schweiz). Das Pro und Contra zur Würde des Lebens ist dagegen sehr gut getroffen. Vage bleibt auch das Ausmaß von Lous schrecklichen Erlebnissen im Schlosslabyrinth. Ich reime mir zwar etwas zusammen, die Autorin hätte es aber auch ruhig deutlicher ausdrücken können. Da fehlt mir in beiden Punkten die Provokation, das Schockieren des Lesers, das in intensive Auseinandersetzung mit Charakteren und Handlung mündet.
Durch Lous unkonventionelle Art ergibt sich so manch humorvoller Moment, das lockert die Handlung auf. Überhaupt ist der Charakter der Lou das Salz in der Suppe dieses Buches. Die Handlung wird aus Lous Sicht in der Ich-Perspektive erzählt, doch in einigen Kapiteln erzählen andere Personen, zum Beispiel Wills Mutter oder Lous Schwester. Dadurch kann man als Leser ihre Beweggründe besser verstehen und erlebt nicht nur Lous subjektive Sicht.
Insgesamt ein empfehlenswerter Roman, locker zu lesen, jedoch mit ernstem Unterthema.