Rezension

Berührender Unterhaltungsroman mit spannenden Themen

Die verschwindende Hälfte - Brit Bennett

Die verschwindende Hälfte
von Brit Bennett

Bewertet mit 4 Sternen

Dieser Roman erhielt in den USA schon sehr viele positive Kritiken, daher wartete ich schon gespannt und voller Vorfreude auf die deutsche Übersetzung.

Im Mittelpunkt dieses Familienromans stehen die Zwillingsschwestern Desiree und Stella sowie ihre Kinder Jude und Kennedy.

Die eineiigen Zwillinge Desiree und Stella wuchsen in Mallard auf, einem Ort, der es nie auf die öffentlichen Karten geschafft hat. Es ist ein Ort voller Schwarzer, die jedoch im Verlauf der Zeit immer weißer wurden. Je dunkler man ist, umso mehr wird man verachtet.

Den Schwestern reicht diese einengende Kleinstadt irgendwann nicht mehr, sie setzen sich 1954 als 17 jährige nach New Orleans ab. Eine Arbeit zu finden, gestaltet sich schwierig. Stella, die eigentlich gern studieren wollte, gibt sich eines Tages als Weiße aus und erhält so eine Stelle als Sekretärin. Irgendwann verschwindet sie dann einfach. Desiree zieht nach Washington, beginnt eine Tätigkeit beim FBI, heiratet einen Schwarzen und bekommt eine Tochter, die äußerlich sehr nach ihrem Vater kommt.

Einer der Mallard Bewohner denkt, beispielhaft für alle anderen: " [ich] hielt sie beide für ein bisschen verrückt, Desiree vielleicht für die Verrücktere. Sich als Weiße auszugeben, um voran zu kommen, war einfach vernünftig. Aber einen dunkelhäutigen Mann heiraten? Sein blauschwarzes Kind austragen?"

Nach einigen Jahren flüchtet Desiree aufgrund der Gewalttätigkeit ihres Mannes und kehrt zurück an ihren Heimatort zu ihrer Mutter. Von dort verfolgt man nun ihren weiteren Lebensweg, vor allem auch den ihrer Tochter Jude. Jude hatte es in Mallard sehr schwer. Mit einem Stipendium kann sie jedoch aufs College gehen. Sie träumt davon, Ärztin zu werden.

Gleichzeitig verfolgt man auch Stellas Lebensweg, die ebenfalls geheiratet hat und eine Tochter bekam. Ihre Tochter Kennedy möchte gern Schauspielerin werden.

Abwechselnd wird aus den Perspektiven der vier Frauen erzählt. Es gibt dabei immer wieder größere Zeitsprünge sowie Rückblenden. Die erzählte Zeit umfasst ca.1950 - Anfang der 90er Jahre.

Die Sprache ist einfach, der Aufbau klar überschaubar. Der Roman unterhielt und fesselte mich zumeist, auch in Anbetracht einiger Längen. Die anschauliche und einfühlsame Beschreibung der der Frauen berührte mich sehr. Sie sind so nahbar gezeichnet, dass ich mich gut hineinversetzen und mitfühlen konnte. Ihre Anliegen wurden mir sehr nahe gebracht, konnte allerdings einige Handlungen nicht ganz nachvollziehen.

Das Problem der „richtigen“ Hautfarbe wurde jedoch deutlich spürbar, regelrecht erfahrbar und schmerzhaft nachvollziehbar. Der stete Rassismus, die Diskriminierung, Unterdrückung und gar Tötung allgegenwärtig. Und nicht nur das, auch aufgrund ihrer Rolle als Frau waren ihnen manche Wege versperrt.

Alle suchen einen Ort, wo sie hingehören. Sie suchen sich selbst, wer sie wirklich sind. Wer bin ich? Wie sehen mich die anderen? Wie sehe ich mich selbst? Wer darf ich sein? Was bin ich wert? – das sind Fragen, die sich diese Frauen stellen.

Völlig überrascht und positiv beeindruckt hat mich in diesem Kontext die Einführung der transsexuellen Figur Reese mit all der Identitätsproblematik. Zudem wurde die Beziehungsdynamik zwischen Reese und Jude fein gezeichnet und interessierte mich insgesamt am meisten. Diese Abschnitte las ich sehr aufmerksam und genau, da mir die Thematik zwar nicht fremd, aber doch auch nicht allzu nah ist. Hier hätte ich mir sogar gern noch mehr Details und Tiefe gewünscht.

Der Roman zeigt, welch katastrophale Auswirkungen Rassismus und einseitiges, binäres Schubladendenken haben können und wie wenig der Mensch als hochkomplexes Wesen in diese engen Schemata eigentlich passt. Er zeigt, wie verlogen die Gesellschaft und wie destruktiv die gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenzuschreibungen sein können. Und zeigt doch auch, wie Liebe, Verständnis, Respekt und Versöhnung immer wieder möglich sind.

Fazit: Ein niveauvoller, etwas provokanter Unterhaltungsroman mit einigen Längen, der das Leben von vier schwarzen Frauen nachzeichnet, dabei ihre Entscheidungen und Beziehungen betrachtet. Wichtige moderne und essentielle Themen (Hautfarbe, Rassismus, Feminismus, Transsexualität, Identität) werden angesprochen und schmerzhafte Aspekte der Geschichte der USA beleuchtet.