Rezension

Berührt Herz und Verstand

Was man von hier aus sehen kann - Mariana Leky

Was man von hier aus sehen kann
von Mariana Leky

Bewertet mit 5 Sternen

Es gibt Romane, die sprechen hauptsächlich den Verstand an - sie lassen verschiedene Blickwinkel und Interpretationsansätze zu und eignen sich deswegen hervorragend als Prüfungsthemen oder in Diskussionskreisen.  Es gibt aber auch Romane, die sich in erster Linie um das Herz kümmern und berühren - der Preis dafür ist häufig jedoch eine weichgekochte Geschichte ohne Tiefgang.
Und dann gibt es Bücher, die beides können  - das Denken herausfordern und das Herz in Staunen versetzen. Mariana Leky ist mit ihrem Roman „Was man von hier aus sehen kann“ dieses seltene und außergewöhnliche Phänomen auf ganzer Linie gelungen.

„Ich beschloss, Martin später zu heiraten, weil ich fand, der Richtige sei der, der einem das Hinsehen erspart wenn die Welt ihren Lauf nimmt.“ (S. 52)

Die 10-jährige Luise wächst gemeinsam mit ihrem besten Freund Martin in einem kleinen Dorf im Westerwald auf, in dem die Uhren noch langsam ticken und die Dorfbewohner der Unberechenbarkeit der Welt eine große Portion Aberglauben und lauter schrulligen Angewohnheiten entgegensetzen. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Okapi das ganze Dorf in helle Aufregung versetzen kann; denn schon dreimal ist Luises Großmutter Selma dieses zusammengewürfelt wirkende Tier im Traum erschienen und schon dreimal hat in den nächsten vierundzwanzig Stunden ein Mitglied der Dorfgemeinschaf sein Leben verloren. Nun hat sie erneut von einem Okapi geträumt und ab diesem Moment ist an Routine und Alltag nicht mehr zu denken:

„Wenige Stunden nach Selmas Traum, bewegten sich die Leute im Dorf, als habe sich auf allen Wegen Blitzeis gebildet, nicht nur draußen, sondern auch in den Häusern, Blitzeis in den Küchen und Wohnzimmern. [...] Den ganzen Tag lang beargwöhnten sie ihr Leben und, soweit möglich, das aller anderen.“ (S. 22)

Wir begleiten Luise, Selma und die anderen Dorfbewohner über eine lange Zeit und stellen schnell fest, dass der Lauf der Welt auch ein kleines, abgeschiedenes Dorf im Westerwald nicht verschont. Es passieren auch hier kleine, mittelgroße und sehr große Katastrophen; doch dazwischen wird gelebt, gelacht, geliebt, füreinander eingestanden, diskutiert, psychoanalysiert und missioniert, werden verschwiegene Wahrheiten ausgesprochen, Geständnisse gemacht und heimliche Lieben weiter verheimlicht. Mariane Leky entführt uns hier in einen wunderbar verrückten, aber gleichzeitig auch wahnsinnig liebenswerten Mikrokosmos an liebevoll verrückten und exzentrischen Charakteren, die einem schon innerhalb der ersten Seiten ans Herz wachsen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Lekys Figuren mit all ihren Ecken und Kanten einfach echt wirken und ich mich in einigen Figuren sofort wiedererkannte. Ich denke, dass in jedem von uns ab und an eine mürrische Marlies steckt, die sich hinter einer Wand aus Depression, Wut und Weltangst versteckt und im Grunde doch nur eine Freundin braucht; vielleicht wird der ein oder andere aber auch von unsichtbaren Stimmen angerempelt wie der Optiker, die ihn daran hindern, wichtige Herzensangelegenheiten anzugehen und auszusprechen? In mir jedenfalls steckt auf jeden Fall ein klitzekleines bisschen Selma, denn ich lasse auch nur ungern die Welt herein und begnüge mich lieber mit vertrauten und bekannten Situationen, statt mal etwas Neues und Unbekanntes zu wagen...

Lekys Sprache ist einfach unglaublich, denn sie beschreibt sowohl die ganz großen Themen wie die Liebe und den Tod, als auch die allerkleinsten, alltäglichsten Dinge in wunderschönen Bildern und findet für jedes noch so abwegige Gefühl tiefsinnige und gleichzeitig unfassbar treffsichere Beschreibungen. Dabei driftet ihr besonderer Stil nie ins Pathetische oder Kitschige ab, sondern zeigt ganz im Gegenteil einen feinen Sinn für Humor und ihre hervorragende Menschenkenntnis.

Mich lässt dieser Roman einfach nur sprachlos zurück. Sprachlos deswegen, weil mich die Autorin überrascht, überwältigt und schlichtweg überrumpelt hat! Oder angerempelt. Und das im positivsten Sinne. Es geht um das Leben im Hier&Jetzt, nicht im Wenn&Aber, um die Unerklärbarkeit der Welt, um unzusammenhängende Zusammenhänge, um die unbefestigten Dinge im Leben, ums Gesehenwerden und um eine ganz besondere Enkelin-Großmutter-Beziehung. Vor allen Dingen aber geht es darum, sich nicht vor der Welt zu verstecken, denn „keiner ist allein, solange er noch WIR sagen kann.“ (S. 287)

Lest. Diesen. Roman. Alle! Er ist jede Lesesekunde wert und hat sich einen Ehrenplatz in meinem Lieblingsbücher-Regal erobert. Mein absolutes Highlight 2018!

Anmerkung: Ich habe diese Geschichte abwechselnd gelesen und gehört und muss sagen: Beides ist einfach nur toll und sehr empfehlenswert! Sandra Hüller liest die verschiedenen Charaktere hervorragend und schafft mit ihrer ruhigen, angenehmen Stimme eine heimelige Hör-Atmosphäre. Man kann die Augen schließen und sich komplett in diese zauberhafte Welt entführen lassen. Das Lesen jedoch hat den Vorteil, dass man sich Zitate direkt markieren kann, denn auf jeder Seite steht mindestens ein Satz, den man sich am liebsten übers Bett hängen möchte ;) Ihr habt die Qual der Wahl! ^^

Kommentare

wandagreen kommentierte am 05. März 2018 um 23:16

Ach, das ist auch eine Idee, mal zu hören und mal zu lesen.Hübsch!

LySch kommentierte am 07. März 2018 um 00:56

Danke!
Das Lesen&Hören habe ich bei diesem Buch zum ersten Mal ausprobiert und es macht wirklich Spaß! :)