Rezension

"Besser ein verkleideter Sohn als gar keiner"

Afghanistans verborgene Töchter - Jenny Nordberg

Afghanistans verborgene Töchter
von Jenny Nordberg

Bewertet mit 5 Sternen

Meine Meinung

Über dieses Buch bin ich letztes Jahr gestopert. Nach dem Lesen des Klappentextes war mir klar, dass ich das Buch unbedingt haben muss.

Afghanistan, ein Land, das quasi ausschließlich mit schlechten Nachrichten in den verschiedenen Medien auftaucht: Krieg, Taliban, Burkas, Unterdrückung der Frauen, Abzug der Amerikaner, Aufstockung der Bundeswehr vor Ort, Zwangsverheiratung unvm.

In diesem Buch schreibt Jenny Nordberg über ein Phänomen, über das sie zufällig während ihrer Zeit in Afghanistan gestolpert war: Töchter, die als Söhne erzogen werden.

Diese Mädchen haben nicht nur Jungenkleider an, nein, sie haben kurze Haare, sie spielen mit Jungs, sie benehmen sich wie Jungs, sie haben alle Privilegien von Jungs und sie werden überall als Söhne und Brüder vorgestellt. Und nach und nach wurde klar, dass es sich hier nicht um wenige Einzelfälle handelt, sondern, dass Mädchen, die als Söhne ausgegeben werden, nichts Neues in Afghanistan sind und dieses sogar in der Gesellschaft, bis zu einem gewissen Grad und Alter der Mädchen, akzeptiert wird.

Es gab immer jemanden, der eine Familie mit so einem “Sohn” kannte oder sogar selber so einen “Sohn” hatte. So fand Jenny Nordberg Zugang zu diesen Familien, “Söhnen”, zurückverwandelten Töchtern und auch älteren Frauen, die mit über 40 sogar noch das Leben eines verkleideten Mannes lebten. Viele waren offen und erzählten ihr ihre Geschichten, über die sie dann in dem vorliegenden Buch berichtet.

Wir lernen unter anderem Aziza kennen, die Abgeordnete im Parlament ist. Sie ist Zweitfrau und hat 4 Töchter. Die jünste ist ein verkleideter Junge. Dann ist da auch Zahra, der Wildfang. Sie ist 15 und will nicht heiraten und wieder eine Frau werden. Shukrias Schicksal kann einem nur sehr nahe gehen. Sie war bis einen Monat vor der Hochzeit noch ein Junge. Mit 17 musste sie doch noch heiraten und ist heute Mutter dreier Kinder und geschieden. Nader dagegen hatte großes Glück. Sie ist 35 und lebt immer noch ein verkleidetes Männerleben. Sie hofft, dass sie nun in diesem Alter für den Heiratsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen muss und endgültige ihre Ruhe haben wird. Auch Amir Bibi hat es geschafft. Mit ihren 45 Jahren wird sie niemand mehr behelligen. Sie kann ihr Leben als Mann weiterführen.

Unter der Talibanherrschaft war es sehr gefährlich als Mädchen oder Frau in Männerkleidung angetroffen zu werden. Zu dieser Zeit gabe es kaum noch solche bacha posh (ausgespr. als “batscha posch”), wie die verkleideten Mädchen in Afghanistan genannt werden.

Ein jedes Schicksal schnürte mir die Kehle zu. Denn, WIE SCHLIMM muss die Gesellschaft und das Leben von Mädchen und Frauen sein, wenn Familien in der Verkleidung ihrer Töchter eine Lösung für das Fehlen von Söhnen sehen und der Meinung sind, einen verkleideten Sohn zu haben ist besser als gar keinen!

Doch wie ist das für diese verkleideten Söhne? Alle sind sich darin einig, dass es besser und schöner ist ein Junge als ein Mädchen zu sein. Jungs dürfen raus, Jungs dürfen spielen, Jungs tragen Hosen und keine Burka, die ihnen die Sicht und die Bewegungsfreiheit nimmt. Jungs dürfen lachen, aufrecht gehen, anderen Menschen in die Augen schauen, arbeiten, ohne Begleitung raus gehen, große Schritte machen, Auto fahren unvm. All das dürfen die verkleidenten Mädchen während ihrer Jungenzeit auch machen. Doch, was ist danach?

Und wieder wird eines klar: Verkleidete Mädchen, die vor ihrer Pubertät noch rechtzeitig zurückverwandelt werden, können sich einigermaßen mit ihrem nachfolgenden eingesperrten Mädchen-Dasein abfinden, heiraten und Mutter werden. Wird der Zeitpunkt, der so in etwa bei 10 Jahren liegt, verpasst, streuben sich die Mädchen vehement fraulich zu werden, ihre Menstruation und weibliche Rundungen zu kriegen und ausschließlich darauf zu warten verheiratet zu werden, um dann wieder eingesperrt im Reich der Schwiegermutter bis ans Ende ihres Lebens zu sein, im Schnitt 4-8 Kinder zu kriegen, dem Mann zu gehorchen und sonst, bis auf die Hausarbeit, nichts zu tun zu haben.

Mädchen sind in Afgahnistan ausschließlich Heiratsware, für die die Familie Geld als Brautgabe bekommt und danach sind sie Gebärmaschinen. Ziel ist es natürlich dann so viele Söhne wie möglich zu bekommen. Die Geburt von Töchtern wird beweint, dieses Schicksal beklagt und nicht wenige Frauen müssen mit Gewalt rechnen, wenn sie mit Töchtern nach Hause kommen.

Bisher dachte ich immer, dass Saudi-Arabien das schlimmste Land der Welt ist. Doch nach diesem Buch rutscht Saudi auf den zweiten Platz. In Saudi ist immerhin die Schul- und Ausbildung von Töchtern und Frauen sehr wichtig. Dafür dürfen sie sogar ins Ausland, um gut ausgebildet wieder zurückzukommen. In Afghanistan wird Schulbildung für Frauen als unnütz angesehen. Viele Mädchen kommen über vier Schuljahre nicht hinaus.

Jenny Nordberg traf die oben genannten Mädchen und Frauen immer wieder während ihrer Zeit in Afghanistan. Am Ende des Buches gibt sie noch kurz Auskunft darüber, wie der Stand der Dinge für die Mädchen und Frauen war, als sie in 2014 das letzte Mal in Afghanistan war.

Azizas Schicksal ging mir sehr nahe. All ihr Kampf, ihre Ideologie und Vaterlandsliebe war verloren. Einst Politikerin, musste sie sodann wieder zurück in den Kreis der untätigen und gehorchenden Frauen, ohne Sohn, ohne Arbeit und Verdienst und das als Zweitfrau, von der Großstadt Kabul ins hinterste Land in ein enges Lehmhaus, ohne Perspektive für ein anderes Leben.

Mein Herz weint! Es weint für all die eingesperrten Mädchen und Frauen, die ihrer Freiheit, Kreativität, Geselligkeit, Entwicklung… beraubt wurden und für die es kein Entkommen gibt. Mein Herz weint, dass es in 2019 immer noch Länder gibt, in denen das Patriarchat so viel Macht hat und dass all die Unterstützung des Auslands und all die Gelder nichts bewirkt haben und in absehbarer Zukunft auch nichts bewirken und verändern werden.

 

Fazit

Ein trauriges Buch, das ich dennoch jedem empfehle! Es muss darüber gelesen und berichtet werden. All die Frauen, all ihre Schicksale, sie sollen nicht vergessen werden! Frauen sind Menschen, sie haben Rechte und Wünsche und dürfen nicht von Männern missbraucht, verkauft und ausgenutzt werden. Frauen verdienen Gleichbehandlung! In Afghanistan und überall auf der Welt! Frauen sind keine Ware, keine Roboter, keine Sklaven!