Rezension

Beste Schwestern

22 Bahnen -

22 Bahnen
von Caroline Wahl

Bewertet mit 3.5 Sternen

Für eine junge Frau Anfang 20 hat Tilda wirklich eine Menge Probleme. Neben dem Studium jobbt sie an der Supermarktkasse. Ihren Freunden aus der Schulzeit schaut sie dabei zu, wie diese Weltreisen machen oder ans Meer fahren, nach Berlin ziehen oder ins Ausland, nächtelang feiern gehen und sich von einer Romanze in die nächste stürzen. Doch Tilda hat für all das keine Zeit, geschweige denn Geld. Sie muss sich schließlich um ihre kleine Schwester Ida kümmern, denn ihre Mutter kann das nicht. Ihre Mutter ist Alkoholkrank und hat in Summe mehr schlechte als gute Tage. Die Mädchen sind an eine Mischung aus Chaos, Gehässigkeit, Teilnahmslosigkeit, Abwesenheit und manchmal auch Gewalt gewöhnt. Doch die Situation ändert sich, als Tilda eine Promotionsstelle in Berlin angeboten bekommt. Die Stelle ist ein Traum, doch dafür müsste sie Ida allein bei ihrer Mutter zurücklassen und sie weiß nicht, ob das Mädchen dafür schon bereit ist.

Besonders hat mir in diesem Roman die Beziehung zwischen den beiden Schwestern gefallen, die so früh schon selbstständig sein mussten und mehr oder minder nur sich hatten. Über Idas Kreativität und den langsamen Weg heraus aus ihrem Schneckenhaus zu lesen, fand ich sehr schön.

Da der Roman aus Tildas Perspektive erzählt ist, und sie viele ihrer Gefühle von sich wegschiebt, wirkt er ein wenig nüchtern und sprachlich eher reduziert. Das passt natürlich ausgesprochen gut zu Tilda, die früh gelernt hat misstrauisch zu sein und sich Sorgen zu machen, lässt aber auch weniger Emotion zu. Dafür sind die Momente, in denen Tilda mal loslässt und glücklich ist umso berührender.

Ein paar Dinge fand ich aber irgendwie unlogisch, beziehungsweise nicht richtig auserzählt. Wer beispielsweise ist Ursula, auf die Tilda bei fast jedem ihrer Schwimmbadbesuche trifft? Eine Freundin, eine Bekannte, eine Mitarbeiterin des Schwimmbades? Ursula steht wie ein NPC in einem Videospiel immer im Schwimmbad für ein Pläuschchen mit Tilda bereit. Außerhalb davon taucht sie nie auf oder wird auch nur erwähnt. Auch, woher sie sich kennen ist unklar.

Dann fand ich es etwas befremdlich, dass das Alkoholproblem von Tildas Mutter ein offenes Geheimnis ist aber sowohl Tilda, als auch Ida damit vollkommen allein gelassen werden. Dabei war Tilda als Kind Dauergast bei der Familie ihrer (sogenannten) Besten Freundin Marlene. Ist es traurige Realität, dass von dort nie ein Hilfsangebot kam, obwohl Tilda offensichtlich Probleme hatte und irgendwann auch noch ein Säugling dazu kam? Hat keiner der Lehrer, Ärzte, Nachbarn oder Freunde jemals irgendetwas unternommen? Ich hoffe sehr, dass diese krasse Nachlässigkeit nicht der Realität entspricht.

22 Bahnen ist ein traurig-schöner Roman über zwei Schwestern, die sich ihre kleinen Freiheiten erkämpfen. Caroline Wahl hält den Leser durchweg bei der Stange, was die Nebenfiguren angeht, wäre meiner Meinung nach aber noch Luft nach oben. Wer Comming-of-Age Geschichten mag und nichts gegen einen etwas nüchterneren Stil hat, wird an diesem Roman sicher seine Freude haben!