Rezension

Bewegendes Porträt

Mein Leben als Sonntagskind - Judith Visser

Mein Leben als Sonntagskind
von Judith Visser

Bewertet mit 5 Sternen

Als Baby ist Jasmijn noch unauffällig und lacht viel, doch schon bereits im Kindergartenalter zeigt sich, dass das kleine Mädchen anders ist, als die anderen Kinder. Sie liest lieber, als mit jemandem in Kontakt zu treten. Selbst leise Geräusche sind für sie unerträglich laut, so dass sie sich immer mehr zurückzieht. Auch Emotionen kann sie nur schwer aus den Gesichtern oder Gesten ihres Gegenübers ablesen, so dass sie stets nur reagiert und imitiert, anstatt wirklich zu interagieren. Als Jasmijn dann in die Schule gehen soll, verstärken sich die Probleme noch mehr. Nur mit Senta, ihrer Hünding, ist sie gerne unterwegs. Denn bei Senta kann Jasmjn genau die sein, die sie eben ist. Senta bewertet nicht, sie liebt einfach nur bedingungslos.

Judith Visser erzählt bewegend von einer Kindheit und Jugend, die genau genommen ihre eigene ist. Erst mit Anfang 20 wird bei Judith (und ebenso bei Jasmijn) das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine Form des Autismus, und das Anderssein, das sie schon immer in sich gespürt hat, erhält endlich einen Namen. 
Aus Jasmijns Perspektive und daher ganz nah am Geschehen berichtet die Autorin, wie sich dieses Leben angefühlt hat. Mit Tieren kann Jasmijn gut umgehen, mit Menschen ist es umso schwieriger. Nur durch feste Rituale und Gewöhnung schafft sie es überhaupt, ein kleines Bisschen Ruhe und Beständigkeit in ihr Leben zu bringen, bis ein negatives Ereignis droht, sie völlig aus der Bahn zu werfen.

Man spürt in jeder Zeile dieses besonderen Romans, dass dahinter jemand steckt, der weiß, wovon er schreibt. Der die Unsicherheiten kennt, die Verletzungen, die Mühsamkeit, die einen Menschen mit dem Asperger-Syndrom der Alltag kostet. Jasmijns Eltern, vor allem die Mutter, versuchen stets, ihr Kind zu unterstützen und es so zu akzeptieren, wie es nun mal ist. Stoisch wiederholt sie, dass Jasmijn "nun mal so sei", auch wenn Verwandte und Bekannte immer wiederholen müssen, was für ein seltsames Kind sie doch sei. Dennoch gerät auch die Familie oft an die Grenzen ihres Verständnisses und ihrer Kraft. Die Mutter ist gekränkt, der Vater genervt und der Bruder leidet daran, dass alle Aufmerksamkeit sich immer auf seine kleine Schwester lenkt. Dabei muss man auch bedenken, dass hier eine Kindheit in den 80er Jahren beschrieben wird. Einer Zeit, zu der das Wissen über Formen des Autismus noch sehr begrenzt war und Eltern und Kinder oft hilflos zurückblieben.

Trotz allem gelingt es Jasmijn, ihr eigenes Leben zu meistern. Sie erlebt die erste Liebe und berufliche Erfolge, meistert Rückschläge und Verluste. Wenn ich eines an diesem Roma zu kritisieren hätte, dann, dass ich auch nach den knapp über 600 Seiten vieles nicht erfahre, was ich gerne noch gewusst hätte. Die Autorin hingegen berichtet auf Instagram weiterhin über ihr Leben, über das Schreiben, über ihre Liebe zu Hunden und zeigte dort kürzlich zum Beispiel auch ein Foto der echten Senta. Dies hat mich dem Roman und den Figuren noch näher gebracht - eine bewundernswerte Frau und ein bewegender Roman!