Rezension

Bis an die Grenze mit Josie

Bis an die Grenze - Dave Eggers

Bis an die Grenze
von Dave Eggers

Bewertet mit 5 Sternen

Mit „Bis an die Grenze“ habe ich nun schon meinen zweiten Roman von Dave Eggers beendet und bin wieder einmal restlos begeistert. Sein neues Buch ist so ganz anders als „The Circle“ und auf eine gewisse Art und Weise doch auch wieder nicht – und das ist das faszinierende an diesem Autor. In jedem Buch erkennt man seine Stimme, in jedem Buch erzählt er eine Geschichte, die aufrütteln soll; die unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält und sagt: „Schaut was passiert, wenn ihr nicht aufpasst!“

In diesem Fall geht es um Josie. Josie, die ihre Zahnarztpraxis in Ohio verloren hat. Josie, die ihren Mann oder besser gesagt den Erzeuger ihrer Kinder verloren hat. Josie, die in der Hektik des Alltags den Zugang zu ihren Kindern verloren hat und Josie, die in gewisser Weise sich selbst verloren hat. Ja, das ist ziemlich viel Josie. Dave Eggers mutet den Lesern hier einiges zu - man taucht in Josies hektische Gedankenwelt ein, erlebt mit ihr Höhen und Tiefen und begleitet sie und ihre beiden Kinder Ana und Paul auf einer irrwitzigen (Achterbahn-)Fahrt (der Gefühle) durch die wilde und unberechenbare Natur Alaskas. Josie ist keine einfache Person und für viele sicherlich keine Sympathieträgerin und doch fand ich sie einfach nur hinreissend! Auf der einen Seite ist sie verunsichert, ausgelaugt, gelangweilt, überfordert, macht Fehler, hat Angst, kämpft mit Schuldgefühlen, ist aufgekratzt und dann wieder zu Tode betrübt... und auf der anderen Seite aber auch so liebenswert, fürsorglich, witzig, spontan und ungemein philosophisch. Ist das nicht zutiefst menschlich?! Geht es uns nicht allen manchmal so, dass wir einfach abhauen, alles hinter uns lassen wollen? Was hindert uns daran? Der langweilige Job? Die vermeintlichen Sicherheiten, die wir uns aufgebaut haben? Die Verpflichtungen, die wir im engen Korsett der Gesellschaft uns selbst und anderen gegenüber haben?

Dave Eggers stellt diese Fragen mit seinem wunderbaren Schreibstil, der Dinge gnadenlos ehrlich auf den Punkt bringt und dabei seinen trockenen Humor nicht zu kurz kommen lässt. Er verklärt die Flucht in die Natur nicht, sondern verdeutlicht vielmehr ihre Unberechenbarkeit und Wildheit durch das Feuer, das in Alaska wütet. Auch in Josie wüten Feuer, wütende Dämonen und Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sie bis an die Grenze treiben. Und doch wird mit jeder Seite, die wir sie begleiten, deutlich, dass die Erfahrungen in und mit der Natur sie herausfordern, verändern und ungeahnte Kräfte in ihr freisetzen. Sobald sie in der Natur ist, löst sich etwas in Josie, sie beginnt zu philosophieren und lässt ihren Gedanken freien Lauf – und das ist großartig! Ganz nebenbei deckt sie dadurch so manchen Unsinn unserer modernen Lebenswelt auf und führt dem Leser vor Augen, worauf es eigentlich ankommen sollte:

„Bei der Erziehung von Kindern ging es nicht darum, sie zu perfektionieren oder sie auf beruflichen Erfolg vorzubereiten. Was für ein hohles Ziel! [...] Das normale verbrecherische Streben der gesamten modernen Menschheit sah so aus: ‚Gib meinem Kind einen Ikea-Schreibtisch und lass es zwölf Stunden am Tag dran sitzen und irgendwas tippen. Das ist gleichbedeutend mit Erfolg für mich, mein Kind, unsere Familie, unser ganzes Geschlecht.‘ Sie würde das nicht erstreben. Sie würde ihren Kindern das nicht zumuten. [...] Es ging nur darum, sie [die Kinder] in einem Moment in der Sonne mit Liebe zu umgeben.“ (s. 243)

Wie Eggers so viel Zwischenmenschliches, so viel Widersprüchliches und so viel Gesellschaftskritisches mit nur einer verrückt liebenswerten Protagonistin erschaffen kann, finde ich sagenhaft. Für mich war diese Reise mit Josie mein persönliches Lesehighlight 2017 und ich kann sie jedem empfehlen, der mutig genug ist, mit ihr gemeinsam die Welt zu hinterfragen.

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 26. Juli 2017 um 10:56

Eine sehr schöne Rezi! - Manche Kritiker beurteilen sie vielleicht zu sehr nach "offiziellen", moralischen Kriterien.

LySch kommentierte am 26. Juli 2017 um 19:24

Ja das stimmt. Und sie macht ja auch viele krummen Dinger. Aber ich finde eben, dass es darum nicht geht, sondern die Botschaft dahinter wichtig ist... :)

Steve Kaminski kommentierte am 27. Juli 2017 um 09:12

Ja, und Josie steht ja nicht hier, mit Paul, sodass wir ihr sagen müssten: Hör mal, Dein Sohn könnte Parentifizierungssymptome entwickeln. Sondern sie ist eine literarische Figur, die aber einiges über die Realität zeigt, auch mit Gesellschaftskritik (wie Du schreibst).

yvy kommentierte am 26. Juli 2017 um 11:09

Auch mir gefällt deine Rezi sehr gut.
Du hast schöne und treffende Bilder benutzt ("Die Verpflichtungen, die wir im engen Korsett der Gesellschaft uns selbst und anderen gegenüber haben?" / "Auch in Josie wüten Feuer, wütende Dämonen und Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sie bis an die Grenze treiben.").

LySch kommentierte am 26. Juli 2017 um 19:25

Vielen Dank :)

Steve Kaminski kommentierte am 27. Juli 2017 um 09:14

Stimmt, Yvy, das Bild mit den Feuern war mir auch positiv aufgefallen!

katzenminze kommentierte am 26. Juli 2017 um 22:23

Wow, schöne Rezi Lysch! ^.^ Das hört sich ja echt gut an. Und ich finde Josi klingt ganz toll in deiner Beschreibung. Ich bin jetzt schon super gespannt drauf!

LySch kommentierte am 26. Juli 2017 um 22:27

Danke ♡ Josie ist auch toll :) Aber auf moralischer Ebene muss man trotzdem durchaus mal ein Auge zudrücken! Aber es ist - wie der Circle auch - ein Buch, das ich auf jeden Fall wieder lesen möchte! :) Einfach um wirklich alles aufzunehmen...

Naibenak kommentierte am 27. Juli 2017 um 09:15

Total schöne Rezi, du Liebe <3 Aber echt! Jetzt will ich es doch lesen. Du bist schuld *lach* <3

yvy kommentierte am 27. Juli 2017 um 10:03

Hey Bianca, wenn du Lust hast, komm doch in meine Wanderbuchrunde. ;)

LySch kommentierte am 27. Juli 2017 um 10:17

Hihi :) Es kann gerne morgen seine Koffer packen und in die Nähe von Hamburg reisen, wenn du willst! ♡ Gib einfach Bescheid! :)

Edit: Oh, hab gerade erst Ivys Kommentar gesehen! :) Stiiimmt, da gabs ja eine Wanderbuchrunde! Hatte ich schon wieder vergessen... ;) DAS ist natürlich auch toll!

Naibenak kommentierte am 27. Juli 2017 um 10:15

Haha... so ein Andrang hier <3 ;-) Ich habe mich nun bei Yvy angemeldet. PN folgt noch. Ich kann derzeit noch nicht, aber wenn ich zum Schluss der Wanderrunde dran bist, ist das perfekt :) Danke euch beiden!!! :*