Rezension

Bittersüß und schmerzhaft

Drachenläufer - Khaled Hosseini

Drachenläufer
von Khaled Hosseini

Bewertet mit 5 Sternen

Khaled Hosseinis "Drachenläufer" ist seit langem das erste Buch, das ich in einer einzigen Nacht komplett verschlungen habe.
Sicherlich handelt es sich, wie manche Rezensenten anmerken, nicht um eine "realistische" Geschichte. Schuld und Sühne, ergebene Diener und finstere Schurken lassen die Handlung vielleicht objektiv "konstruiert" wirken. Andererseits würde sich bei einem Theaterstück oder einem Opernlibretto darüber niemand echauffieren, und Hosseinis Buch ist nicht nur ein Roman, sondern gleichzeitig eine Parabel, Lehrstück, ohne belehrend zu wirken.
Meisterhaft versteht es Hosseini, eine Vielzahl von Themen miteinander zu verknüpfen, ohne dass der Erzählfluss ins Stocken gerät.
Im Mitelpunkt der Geschichte steht die Freundschaft des egoistischen Amir und seines Spielgefährten und Dieners Hassan, Angehöriger einer Minderheit und Amir gegenüber trotz ständiger kleiner Demütigungen loyal bis zur Selbstaufgabe.
Zweites großes Thema ist eine konfliktträchtige Vater-Sohn-Beziehung:
Die Freundschaft der Kinder wird überschattet von Amirs vergeblichem Kampf um die Achtung seines Vaters, der mit seinem sensiblen Sohn, der sich mehr für die Schriftstellerei als für Fußball interessiert, nicht viel anfangen kann. Es scheint sogar, als würde er Hassan dem eigenen Sohn innerlich vorziehen. Amirs verzweifelter Wunsch, sein Vater möge stolz auf ihn sein, endet darin, dass er den Freund in mehrfacher Hinsicht verrät. Hassan geht fort, doch Amirs Leben wird von Schuldgefühlen überschattet. Der Leser erfährt dies alles in einer Rückblende, die durch die gnadenlose Selbstreflexion des erwachsen gewordenen Ich-Erzählers ebenso fesselnd wie schwer zu ertragen ist.
Der dritte Handlungsstrang schließlich beschäftigt sich mit dem Niedergang Afghanistans, erst durch den Einmarsch der Russen, dann durch die Machtergreifung der Taliban.
Amir und sein Vater fliehen nach Amerika, und die Beziehung kehrt sich um: Während Amir seinen Weg geht, wird der stolze Vater zum hilflos Gestrandeten in einer Welt, an die er sich weder gewöhnen kann noch will.
Eines Tages zwingt ein Anruf Amir, nach Afghanistan zurückzukehren.
In einem dramatischen Finale laufen hier die Handlungsstränge zusammen: Amir wird mit dem dunklen Geheimnis seines Vaters konfrontiert und bekommt die Gelegenheit, seine eigene Schuld und die des Vaters zu sühnen. Gleichzeitig weiß Hosseini die Perspektive des in sein Land zurückkehrenden Amir zu nutzen, um dem Leser die Veränderung seines Heimatlandes in all seiner Grausamkeit deutlich zu machen.
Ein anrührendes, ein wichtiges Buch mit einem verhaltenen Happy End.
Während der Lektüre sind mir mehrfach die Tränen übers Gesicht gelaufen, dennoch gleitet Hosseinis packender Schreibstil nie ins Pathos ab.
Khaled Hosseini ist genau das, was er seiner Hauptfigur andichtet: ein großer Erzäher.