Rezension

Blick aus dem Elfenbeinturm auf eine Epoche der Rücksichtslosigkeit

Vom Ende des Gemeinwohls - Michael J. Sandel

Vom Ende des Gemeinwohls
von Michael J. Sandel

Bewertet mit 3 Sternen

Im März 2020, noch frisch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, geht Michael J. Sandel der Frage nach, wie ein Land, das sich bis dahin für großartig hielt, in der Krise derart versagen konnte und wie es zur tiefen, seit Corona unübersehbaren Spaltung der amerikanischen Gesellschaft  kommen konnte. Rückblickend erläutert der amerikanische Moralphilosoph, warum er das amerikanische Selbstbild einer Leistungsgesellschaft für eine Selbsttäuschung jener Schichten hält, die davon profitieren, dass sich akademische Eliten aus sich selbst rekrutieren. (Das Problem der Selbstrekrutierung von Eliten und der fehlenden Diversität auf Führungsebene stellt sich auch anderen Staaten.) Die amerikanische Gesellschaft sei eine Meritokratie, in der Universitätsexamen als Erfolg aufgrund von Intelligenz oder Leistung angesehen werden, woraus automatisch der Anspruch auf ein hohes Einkommen resultiert. Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit hingegen seien persönliches Versagen, dessen Folgen vom Einzelnen getragen werden müssten. Eine Förderung von ethnischen Minderheiten lässt sich mit meritokratischer Sichtweise nicht vereinbaren. Anders als die Klassengesellschaft vergangener Jahrhunderte führt merokratisches Denken zu einer tiefen Kränkung der Verlierer. Wer als Knecht oder Magd geboren wurde, nahm seinen gesellschaftlichen Stand hin, an dem er sowieso nichts ändern konnte. Wählergruppen, die sich heute von Absolventen der Eliteuniversitäten ausgegrenzt fühlen,  haben den „Eliten“ mit ihrem Votum zum Brexit-Ausstieg und der Trump-Wahl 2016 einen Denkzettel erteilt. Wer sich als Verlierer sieht, will nicht zusätzlich noch von den Gewinnern belehrt und gedemütigt werden. Mit der seit 1990 zunehmenden Meritokratie, die einen Präsidenten mit dem Wortschatz eines Grundschulkinds ins Amt brachte, rechnet der Autor schonungslos ab.

Die politische Elite der USA rekrutiert sich aus den Absolventen weniger Hochschulen und bestand lange Zeit ausschließlich aus männlichen, weißen, protestantischen Nachkommen des wohlhabenden Ostküsten-Adels. Der Kampf um Studienplätze an wenigen Elite-Universitäten hat mit wachsender Bewerberzahlt seit den 60ern erheblich zugenommen und wird inzwischen mit sehr viel härteren Bandagen ausgetragen. Dass sich nur durchsetzt, wer reich und rücksichtslos ist, widerspricht demokratischen Idealen. So rekrutierten sich in der Regierung Obama 13 von 21 Amtsträgern im Kabinettsrang aus Absolventen von Harvard und Yale. Nur 2% der Kongressmitglieder kommen aus Arbeiterberufen oder dem Dienstleistungsbereich. Einen Versuch, die verknöcherten Auswahlverfahren an Universitäten u. a. durch Testverfahren aufzubrechen, erklärt der Autor für gescheitert.

Nur ein akademischer Abschluss garantiert in den USA Zugang zu gut bezahlten Posten. Wenn Studienplätze bevorzugt an Kinder von Absolventen und Großspendern vergeben werden, der Seiteneinstieg als Sportler zur Farce verkommt und für Testverfahren in teuren Paukschulen gelernt würde, hätte das nur noch wenig mit Leistung zu tun, so Sandel. Erstaunlich, dass sich die Mär von der Aufstiegschance eines Tellerwäschers in der  Leistungsgesellschaft trotzdem so lange halten konnte.

Bereits in der Epoche von Clinton, Blair und Gerhard Schröder und ablesbar an deren Polit-Jargon sieht Sandel die Wende zu einer Gesellschaft, in der der Finanzsektor unkontrolliert aus dem Ruder läuft, Profite bei nur wenigen Prozent der Bevölkerung bleiben und Verluste zum persönlichen Risiko der breiten Masse erklärt werden. Wer gesund ist, hatte verdientes Glück, wer krank oder behindert ist, wird das durch ungesunde Lebensweise selbst verschuldet  haben. Erdbeben und Wirbelstürme werden dagegen gern als göttliche Strafe überhöht, damit man sich nicht mit dem Klima befassen muss, das zunehmend zu einem Thema wird, an das man „glauben“ oder es abwählen kann. Wie die Entwicklung zur Ellbogengesellschaft euphemistisch verharmlost wurde, indem bis in die Ära Obama zunehmend die Begriffe  „verdienen“ und „smart“ verwendet wurden, zeigt Sandel an Beispielen.

Michael J. Sandel berichtet aus dem Elfenbeinturm des Lehrenden über die amerikanische Klassengesellschaft und ihre Selbstlügen. Als Teil des Problems ist er nur begrenzt in der Lage, über den Tellerrand seines Landes und seiner Blase akademisch Gebildeter zu blicken. Wie kann man z. B. davon überrascht sein, dass Studenten in China, die gerade einen gnadenlosen Auswahlmarathon überstanden haben, selbstverständlich Privilegien und ein hohes Einkommen beanspruchen!? Damit sind wir wieder bei den Eliten, die verkalken, während sie sich aus sich selbst rekrutieren, und den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen sind. Sandel befasst sich intensiv mit den 30% Amerikanern, die ein Universitätsexamen ablegen, und ihrem Anspruchsdenken; die Mehrheit der übrigen Berufstätigen ist für ihn schlicht „die Arbeiterklasse“. Von Deutschland aus betrachtet mit seinem mehrgliedrigen Schulsystem, dualer Berufsausbildung, Zugang zum Studium mit Berufsabschluss und ohne Abitur, ist mir Sandels Definition einer Zweiklassengesellschaft  des 21. Jahrhunderts bereits sprachlich zu unpräzise. Inhaltlich hat sein USA-zentriertes Buch für mich rein anekdotischen Wert, während es mit seinem Blick aus dem Elfenbeinturm Klischees vom US-amerikanischen Tunnelblick bestätigt.