Rezension

Bloß nicht verpassen, bietet viel & unterhält bestens!

Der Duft der Mandelblüte -

Der Duft der Mandelblüte
von Anett Diell

Bewertet mit 5 Sternen

Kunst-voll & bitter-süß: Zwei ineinander verschlungene Liebesgeschichten - und noch viel mehr!

INHALT

Es ist schwierig, den Inhalt dieses Romans zu skizzieren, ohne zu viel zu verraten - oder zu wenig. Alles, was mir bei der Lektüre als Besonderheit aufgefallen ist, kann ich gar nicht erwähnen - meine Rezensionen sind eh immer episch lang, aber romanartige Buchbesprechungen will eigentlich keiner lesen, sondern lieber Romane. Daher versuche ich gar nicht, zu tief in seine Handlung einzusteigen:

Das Werk erzählt zwei Geschichten über die Liebe, und zwar in Venosa. Dieses Städtchen in Süditalien wird sowohl 1955 wie auch 2005 zum Schauplatz (teils dramatischer) Ereignisse, die einander berühren, bedingen, beeinflussen. Anatolia und Tynano heißen die beiden Liebenden der ersten Lovestory, die im Zusammenhang mit dem "Dolce Vita", das nicht nur die Italiener in den 1950er Jahren für sich entdeckten, Gefühle für einander entwickeln. Liza, Anatolias Tochter, kommt 2005 eigentlich nur nach Venosa, um nach deren Tod dort die Asche ihrer Mutter zu begraben - und gräbt dabei ein unwissentlich-unwillentlich ein uraltes Kriegsbeil aus. Denn nicht nur im shakespeareschen Verona, wo einst ...

"...aus dieser Feinde unheilvollem Schoß 

das Leben zweier Liebender entsprang..."

... sondern auch in Anett Diells [tatsächlich real existierendem] Venosa fliegen Fetzen & Fäuste zwischen zwei verfeindeten Familien: Pizzeria-Clan gegen Bäckerfamilie. Sturheit gegen den Willen zur Veränderung. Liebe gegen Hass. Und die uralt-ewig-neue Frage stellt sich wieder: Was ist stärker ...? 

>>> ...DAS KLINGT NACH SHAKESPEARE?

Ja, unbedingt! Die Anlehnungen an "Romeo und Julia" sind von der Verfasserin beabsichtigt, wie ihr Text belegt.

"Es gibt nichts Neues unter der Sonne." (Je nach Übersetzung heißt es auch: Es geschieht nichts Neues unter der Sonne.) Das Zitat stammt aus der Bibel, Altes Testament, und ist etwa 2.300 Jahre alt. Da die Bibel in der der Regel in Äußerungen über das menschliche Dasein recht hat, bleibt Autoren die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, zur Feder zu greifen, wenn es ihnen doch nicht gelingen kann, völlig neue Geschichten zu erzählen.

Ich finde: Es lohnt sich auf jeden Fall - die Kunstfertigkeit (und damit letztlich die Qualität eines literarischen Werkes) besteht eben darin, die alten Themen in einer noch nicht da gewesenen Form zu betrachten & zu erzählen.

Das bekommt Anett Diell gekonnt hin: Ihr Roman ist ebenso unterhaltsam wie lesenswert, und zwar in vielerlei Hinsicht.

>>> DEUTLICH MEHR ALS 1 LIEBESROMAN

Bei der Lektüre wird einem schnell klar, dass es sich um mehr als lediglich einen Liebesroman mit mindestens zwei Lovestorys handelt: Anett Diell präsentiert zudem eine Familiengeschichte - voller Geheimnisse. Gleichzeitig erzählt sie Zeitgeschichte des Italiens der letzten 50 Jahre, denkt mit ihren Lesern über das Wesen der Kunst nach, präsentiert Einblicke ins Backhandwerk und hat - so betrachtet - auch ein Kochbuch verfasst.

Ein Ausschnitt aus der Geschichte des Feminismus´  ist in ihrem Roman ebenso enthalten wie Elemente eines Adoleszenzromans, denn wir begleiten Frauen und Männer dabei, wie sie lernen, wirklich eigenständige Entscheidungen zu fällen (... für mich ein entscheidendes Element der Adoleszenz, also des Heranwachsens und damit des Hineinwachsens in die Aufgabe, ein selbstständiger Mensch zu werden - ein Prozess, den ich mit über 60 für mich als längst nicht abgeschlossen betrachte, weshalb es in meinen Augen keine irgendwie geartete Altersobergrenze für sog. Adoleszenzromane gibt, obwohl es allgemein üblich ist, dass Literaturwissenschaftler dieses Genre bei einem Alter der „Protas“ etwa bei Mitte 20 deckeln.)

Nicht zuletzt setzt sich das Werk intensiv mit Italien, (möglicherweise) typischen Eigenschaften seiner Bewohner und denen des Städtchens Venosa auseinander - inwiefern dies das Etikett Heimatroman verdient, mag jeder beim Lesen selbst beurteilen.

>>> SPITZEN TANZ?!

Zitat aus dem Werk über Tynano: "Sein Schweigen machte ihn schön."

Anett Diell schreibt so, dass sich der Roman angenehm, beinahe beschwingt lesen lässt. Dabei versteht sie es geschickt, mich als Leserin immer wieder wachzurütteln, indem sie Formulierungen wählt, die mir als ungewöhnlich auffallen müssen. Unter anderem diese weitab von gängigen Floskeln gewählte Ausdrucksweise ist es, die dem Werk viel Tiefe verleiht: Sie stößt auf, gibt dem eigenen Hirn den Schubs, den alles Neue vermittelt und der zum Nachdenken anregt. Das unterscheidet diese Story von der sog. "leichten Sommerlektüre", die sich ohne großartige Nutzung des Denkapparates konsumieren lässt.

Im letzten Drittel habe ich meine ansonsten eher behäbige Lesegeschwindigkeit erheblich gesteigert: Die Autorin ließ mich förmlich "schmökernd auf den Zehenspitzen stehen", weil ewig lang der Ausgang der Geschichte(n) offenbleibt. 

Ich bin ja so ein harmoniesüchtiges Hypersensibelchen, das ohne Happy End wirklich unglücklich reagiert - bleibt die Handlung lange in der Schwebe, erzeugt das in mir eine enorme Anspannung, wie im Mittelfußbereich einer Spitzentänzerin, von der sich angesichts ihres Balanceakts niemand so ganz sicher sein kann, wohin sie schweben oder eben stürzen mag: spannend wie ein Thriller - nur, um an dieser Stelle noch ein Genre zu nennen, mit dem der Roman absolut konkurrieren kann.

>>> EIN HAUS ALS HAUPTFIGUR - UND ANDERE STILMITTEL

Die Charaktere sind sauber ausgearbeitet und stimmig. Gutes Handwerk. Erstaunlicherweise übernimmt ein Gebäude eine ganz zentrale Rolle in der Geschichte - darauf muss man erst einmal kommen! Mein persönlicher Erklärungsansatz: Ein Haus ist eine Immobile, was wörtlich übersetzt etwas Unbewegliches bedeutet - und damit per Definition bestens geeignet, den stabilen Mittelpunkt zu bilden, um den sich Figuren und Ereignisse drehen.

Meine sechs Jahre Latein (Endlich zu etwas nütze!), aber auch das Glossar am Ende des Romans haben mir geholfen, die italienischen Kapitelüberschriften zu verstehen. Die beiden Zeitebenen sind durch deutsch- und italienischsprachige Überschriften gut chiffriert voneinander zu unterscheiden; das Werk hat es nicht nötig, sich durch Rätselraten angesichts der Frage, wann man sich als Leser wo befindet, künstlich interessant zu machen: Es ist interessant.

>>> ZUM COVER

Das folgt in Farbgebung und Gestaltung der beim dp-Verlag üblichen Aufmachung. Corporate Identity samt ihren Möglichkeiten & Grenzen halt. Junge Frau und mediterrane Landschaft. Na ja ... Ich finde, da schaue ich auf den schwächsten Teil des Buches ;-) 

>>> LEKTORAT

Daran habe ich in der Tat etwas auszusetzen. In der Fassung, die mir vorlag, bestand noch Spielraum nach oben - aber nicht so viel, dass es den Roman einen Stern gekostet hätte.

Das Schöne am E-Book: Man kann jederzeit Korrekturen einfügen, ohne ganze Auflagen in den Reißwolf schicken zu müssen.

>>> FAZIT

Ein Buch, so vielfältig wie die italienische Backkultur, die es detailliert beschreibt, so sensibel wie die Nase von Liza, die ihr die Welt erklärt und deren gutem Riecher sie trauen kann, geschickt geführte Handlungsstränge, ein plausibles, dennoch überraschendes und damit spannungsgeladenes Plot, sprachlich auf hohem Niveau erzählt: absolut lesenswert und damit vergebe ich gerne 5 Sterne:

PS: Am liebsten hätte ich es, wenn beim Bewerten sozusagen zwei Arten von Sternen zur Verfügung stünden - solche mit weniger oder mehr Gewicht. Manchmal treffe ich auf leichte, unterhaltsame und gut geschriebene Lektüre, an der es nichts auszusetzen gibt und die folgerichtig eine Höchstwertung verdient. Dann wieder habe ich das Vergnügen, Büchern mit viel Tiefgang zu begegnen - denen ich gern meine Höchstwertung zugestehe, aber da müssten (meiner Ansicht nach) die Sterne irgendwie größer sein. Die für "Der Duft der Mandelblüte" sind definitiv ziemlich fett!