Rezension

Brillanter Roman über die Agonie einer außergewöhnlichen Künstlerin an der Seite eines überlebensgroßen Egomanen

Dora und der Minotaurus - Slavenka Drakulic

Dora und der Minotaurus
von Slavenka Drakulic

Von Liebe und Selbstaufgabe

Pablo Picassos Kunst war legendär. Dies trifft in gleichem Maße auch auf seine Frauengeschichten zu, denn seine weiblichen Verehrerinnen lagen dem charismatischen Malergenie reihenweise zu Füßen. Einige Auserwählte stilisierte er zu seinen Musen, die er jedoch nach gewisser Zeit durch jüngere Gespielinnen ersetzte, wenn sein Interesse erloschen war. Das gleiche Schicksal ereilte auch Dora Maar, eine sehr talentierte surrealistische Fotografin, Malerin und extravagante Persönlichkeit der Pariser Avantgarde, die ihre Karriere und schließlich sich selbst für den egozentrischen Künstler aufgab. Diese verhängnisvolle Beziehung thematisiert die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić in ihrem neuen Roman Dora und der Minotaurus auf einzigartige Weise. Sie gibt Maar, die stets im Schatten des überlebensgroßen Egomanen stand und auf sein attraktives Anhängsel reduziert wurde, eine Stimme und lässt uns erahnen, wie es im Inneren der äußerlich kontrollierten, aber tief zerissenen Frau aussah. Dies gelingt der Autorin derart überzeugend, dass man fast vergisst, dass der Roman Fiktion ist, obwohl Drakulić im Vorwort angibt, dass der folgende Text Fragmente aus Maars Notizbuch seien. Dies lässt sich aber nicht abschließend verifizieren.

Das schüchterne Mädchen, das nie lächelt

Die Geschichte wird in der Ich-Form von Protagonistin Dora Maar (eigentlich Henriette Theodora Markovitch) erzählt, die ihr Leben in aufschlussreichen Rückblicken Revue passieren lässt. Als Tochter einer Französin und eines kroatischen Architekten wächst sie zunächst in Paris auf, doch schon nach kurzer Zeit siedelt die Familie nach Buenos Aires/Argentinien um, wo ihr Vater Josif einen vielversprechenden neuen Job annimmt, der seine Karriere beflügeln soll. Doch ihre Mutter Julie kann sich mit der fremden Heimat in keiner Weise anfreunden, die Menschen sind ihr, die sich als Mitglied der aufstrebenden Bourgoisie betrachtet, nicht fein genug – ihre Kultur und ihre Traditionen, allen voran der Tango und die damit verbundene Sinnlichkeit, lehnt sie als moralisch verwerflich ab. Es gelingt ihr allerdings nicht, Dora ihren strengen Regeln zu unterwerfen, denn als Heranwachsende taucht das schüchterne Mädchen, das nie lächelt, ein in die Welt der puren südamerikanischen Lebensfreude. Ihr Vater, von dem Dora das Bodenständige geerbt hat, lässt sie gewähren, doch ihre Mutter ist entsetzt: Sie kehrt mit Dora umgehend nach Paris zurück, um sie dem schändlichen Einfluss dieser in ihren Augen primitiven Menschen zu entziehen.

Die aufstrebende Fotografin

Nach einem Studium der Fotografie und Malerei ändert die ambitionierte Kreative ihren Namen in Dora Maar. Sie will ihr introvertiertes, entwurzeltes und einsames Ich hinter sich lassen, an ihrer Karriere arbeiten und unabhängig sein. Und dies gelingt ihr auch: Mit der finanziellen Unterstützung ihres Vaters richtet sie sich ein eigenes Atelier ein und lernt die schillernden Persönlichkeiten der Avantgarde wie Henri Cartier-Bresson, André Breton und den Philosophen Georges Bataille kennen, mit dem sie eine Affäre beginnt.  Als Fotografin macht sich Dora u.a. mit sogenannter Straßenfotografie – außergewöhnliche Fotos von gesellschaftlichen Außenseitern, Obdachlosen und anderen Menschen auf der Schattenseite des Lebens – einen Namen. Aber auch Erotik- und Modefotos hat sie im Repertoire. Hinter der Kamera fühlt sich Dora sicher, hinter ihr versteckt sie sich. Durch ihr Auge kann sie das Wesen eines Menschen ausmachen und in einer Momentaufnahme festhalten – eine ganz besondere Gabe, deren sie sich auch bewusst ist. Sie reist viel und lernt die Welt kennen, doch zuhause fühlt sie sich nirgendwo. Es fällt ihr sichtlich schwer, Wurzeln zu schlagen und sich zu definieren: Ihr wahres unsicheres Ich verbirgt sie hinter einer kontrollierten Maske aus Arroganz und Stolz.

Die unterwürfige Muse

Als Dora im Alter von 29 Jahren im Pariser Szene-Café Les Deux Magots das um viele Jahre ältere Malergenie Pablo Picasso kennenlernt, ist es bei ihr keinesfalls Liebe auf den ersten Blick. Picasso hingegen findet Dora mit ihren schwarzen langen Haaren und grünen Augen sofort faszinierend. Obwohl Dora Picasso nicht sehr attraktiv findet, kann sie sich seiner Ausstrahlung und magnetisierenden Anziehungskraft nicht entziehen. Sie lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein, die zu ihrer Überraschung in eine Beziehung mündet. Dass er wegen ständig wechselnder Frauengeschichten berühmt-berüchtigt und für seinen Machismo und Geiz bekannt ist, ignoriert Dora – ganz beseelt von dem Gedanken, dass ihre Liebe ihn ändern kann. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich, denn Picasso macht sie nicht nur zu seinem Lieblingsmodell, sondern auch zu seiner Muse. Sie wird Teil seiner ihn bewundernden Entourage und genießt das Leben an seiner Seite. Schließlich inspiriert sie ihn sogar zu einem seiner großartigsten Werke, Guernica, dessen Entstehungsgeschichte sie mit ihrer Kamera dokumentiert.

Doch nach einiger Zeit gibt es immer mehr Dinge, die ihr übel aufstoßen. Je sicherer er sich ihrer Liebe ist, desto öfter behandelt er sie wie einen Fußabtreter. Die ihr zugedachte Rolle als Muse beinhaltet, dass sie ihn vergöttert, eine eigenständige Partnerin ist ihm zuwider. Er lehnt ihren Job als Fotografin ab, denn Fotografie ist in seinen Augen keine Kunst. Ihm zuliebe hängt sie schließlich sogar das geliebte Fotografieren an den Nagel und widmet sich der Malerei, obwohl sie hieran nicht viel Freude hat.

Gegen jegliche Vernunft akzeptiert Dora auch seine ständig wechselnden Geliebten und redet sich ein, dass er ja doch immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Obwohl ihr bewusst ist, dass sie sich ständig verleugnet und jeden Tag ein Stück mehr von sich aufgibt, hält sie an ihrer Beziehung zu Picasso fest, der nicht mal mehr Mitleid für sie empfindet. Ihre Wut- und Weinanfälle münden schließlich in einem bizarren Wahn, dessen Endstation die Psychiatrie ist. Dora hofft auf Picassos Unterstützung in dieser schweren Zeit, doch er hat längst schon eine neue junge Muse im Visier. In ihrer tiefen Verzweiflung fasst sie einen Plan, der ihr Leben für immer verändern wird…

Im Bann des Minotaurus: Leben mit einem Mythos

Dora Maars Lebensrückschau, die Drakulić ohne Beschönigung bzw. Romantisierung konzipiert hat, ist eine Klasse für sich. Aufgrund der eindringlichen Ich-Erzählung hat der Leser das Gefühl, in Doras vielschichtige Gedankenwelt einzutauchen, ohne dabei jedoch die Distanz zu verlieren. So sehr wir manches Mal auch ihre Ansichten verstehen können, umso entsetzter müssen wir die Selbstaufgabe der talentierten Künstlerin miterleben, die sich trotz besseren Wissens einem Mann unterwirft, für den sie nicht mehr als austauschbares schmückendes Beiwerk ist. Obwohl sie in der Lage ist, sich und ihr Verhalten messerscharf zu analysieren, gelingt es ihr nicht, sich aus dem Bann des Egozentrikers zu befreien, dem sie nicht das Geringste bedeutet.

Als er ihr sein Bild Dora und der Minotaurus als Wiederspieglung ihrer Beziehung widmet, ist sie entsetzt, denn das Bild zeigt eine ihr sehr ähnliche Frau beim Liebesakt mit dem mythischen Minotaurus, ein Ungeheuer mit menschlichem Körper und Stierkopf. Die Frau mit dem stolzen Blick ergibt sich völlig unterwürfig der animalischen Kraft des Monstrums. Auch andere Bilder, auf denen Picasso sie darstellt, sind nicht schmeichelhaft: Er porträtiert sie oftmals als weinende Frau bzw. als jämmerliche Erscheinung, was einmal mehr deutlich macht, wie wenig er sie respektiert. Und trotz allem glorifiziert sie ihn und kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Als Leser ist man angesichts dieser Selbstnegierung fassungslos, doch man kann sich ebenso wenig von dieser fesselnden Geschichte lösen.

Brillanter Roman über die Agonie einer außergewöhnlichen Künstlerin

Dieser brillante Roman ist eine exzellent recherchierte Komposition. Die tragische Lebensgeschichte von Dora Maar hat mich sehr berührt und zum Nachdenken angeregt. Sie zeigt auf, wie schnell ein Mensch – trotz Intelligenz und Weitsicht – in eine obsessive Abwärtsspirale hineingeraten und sehenden Auges seinem Untergang entgegengehen kann. Dies als gewagte Utopie abzutun, wäre Hochmut – das muss schließlich auch Dora Maar schmerzlich erkennen, die felsenfest davon überzeugt war, nie so zu enden wie Picassos Verflossene. Ein Trugbild aus Hybris und Vermessenheit, für das sie einen hohen Preis bezahlte.