Rezension

Brot und Spiele an Heiligabend

Reality Show -

Reality Show
von Anne Freytag

Bewertet mit 3.5 Sternen

 Es ist Heiligabend und der Gänsebraten wird kalt, weil alle gebannt auf die Bildschirme von Fernsehern, Handies und tablets starren. Eine Reality Show auf allen Kanälen wird zur Abrechnung mit Verantwortlichen für Missstände und Skandale, die sich bisher dem Blick der Öffentlichkeit erfolgreich entziehen konnten: Anne Freytags dystopischer Roman "Reality Show" hat einen interessanten Plot, lässt mich allerdings gespalten zurück.

Das Thema und der Plot haben Potential: Was ist, wenn diejenigen, die im Trüben unterwegs sind und ungeheuren Reichtum unsauberen Methoden verdanken  öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Mittel sind gerecht und zulässig, um Missstände anzuprangern und zu beseitigen? Was kommt dabei raus, wenn "Volkes Stimme" Urteile sprechen kann, in einer Casting Show ganz anderer Art? 

Es hat schon etwas von "Brot und Spiele" wenn per "Glücksrad" die Kandidaten ausgesucht werden, die zuvor commando-style in ihren schwer gesicherten Eigenheimen oder Feriendomizilen gekidnappt wurden und sich nun der "Verhandlung" an den Bildschirmen vor Millionenpublikum stellen sollen. Da passt es schon, dass der Zeremonienmeister ein Youtube-Influencer ist. Für die Polizei sind mehr als 40 Geiseln am Heiligabend ein Alptraum, zumal ein Superhacker im Hintergrund die Fäden zieht....

Nun haben die "kleinen Leute" Gelegenheit, über "die da oben" zu urteilen, über Menschen aus der Finanzwelt und Industrie. Ob es um die Ausbeutung von Textilarbeiterinnen im globalen Süden geht, um Datenhandel, Umweltzerstörung und ihre Vertuschung, um sexuellen Missbrauch - die Liste der Vorwürfe ist lang.

So weit, so gut. Leider hat Anne Freytag viel Zeit und noch mehr Buchseiten darauf verwendet, dieses doch sehr umfangreiche Personal ihres Buches vorzustellen. Die vielen knappen Kapitel haben zwar knackige Dialoge zu bieten, dennoch dauert es lange, zu lange, bis die Handlung in Fahrt kommt. Ein wenig scheint mir, dass hier schon eine mögliche Verfilmung das Konzept bestimmte. 

Filmisch ist das mit schnellen Schnitten prima darstellbar und überzeugend, beim Text hingegen kommt es irgendwann zu Ermüdungserscheinungen. Zu oft wird angehalten, um noch einige neue Figuren in den Text einzuführen, viele Nebenhandlungen fokussieren sich auf die Diskussionen der Fernsehzuschauer während die Leser gleichzeitig häppchenweise mehr über die Menschen hinter der Operation "Reality Show"  und ihre Motive erfahren.

Angesichts dieses Personenkarussels wäre weniger mehr gewesen, denn letztlich fehlt so auch den Hauptfiguren die Tiefe, ihre Motive sind nur teilweise dargestellt und auch die Frage "Wie haben sie´s gemacht" bleibt in vielerlei Hinsicht unbeantwortet. Hinzu kommen Aspekte, die einfach unrealistisch und unglaubwürdig sind. Natürlich handelt es sich um eine Fiktion, aber bei einem Thriller macht es schließlich den Reiz aus, dass ein Spiel mit dem durchaus Möglichem stattfindet. Das trübt letztlich auch meine Bewertung dieses Buchs, das ich vom Ansatz und Thema her total spannend fand. Schade, ich hätte es gerne mehr gemocht!