Rezension

Brutal & knallhart... aber auch poetisch & lieb. Sehr fordernd für den Leser!

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 4 Sternen

In einer beschaulichen Wohnsiedlung am Stadtrand, mit einem eigenen Wäldchen – dem „Galgenwäldchen“, lebt die Ich-Erzählerin mit ihren Eltern und dem einige Jahre jüngeren Bruder Gilles. Klingt schön, aber im wirklichen Leben spielen sich grausame Dinge zu Hause ab. Der Vater - ein alkoholsüchtiger, jagdbesessener und brutaler Choleriker- prügelt regelmäßig die Mutter grün und blau. Nicht selten vor den Augen der Kinder. Die Mutter lässt alles nur noch geschehen…

 Als das Mädchen etwa 10 Jahre alt ist, passiert in der Wohnsiedlung ein furchtbares Unglück vor ihren Augen und auch ihr kleiner Bruder ist hautnah dabei. Völlig alleingelassen mit ihrem Schock und den darauffolgenden Ängsten und seelischen Konsequenzen, versuchen die beiden Kinder, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Jedes auf seine Weise.

Adeline Dieudonnés Debütroman „Das wirkliche Leben“ schlägt einen mit einer Wucht nieder, dass man Mühe hat sich wieder hochzurappeln. Allein die Geschehnisse in der Familie sind jedes Mal aufs Neue ein Faustschlag in die Eingeweide. Die Tatsache, dass solche Dinge geschehen… und eben auch geschehen können ohne Konsequenzen, ist absolut grausam. Nun liest man solcherlei Geschichten natürlich nicht zum ersten Mal. Dieudonné aber erzählt mit poetischer Sprache und trotzdem kurzen, prägnanten Sätzen. Sehr direkt. Kein Wort ist zuviel. Manchmal gibt es sogar Momente, in denen einem regelrecht das Herz aufgeht – so liebevoll zum Beispiel die Beschreibung der aufopfernden Liebe zum kleinen Bruder. Dann wieder Beschreibungen wie diese hier, bei denen man einen Kloß im Hals verspürt:

„Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand es tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte.“

Die Geschichte ist am Ende kurz erzählt. Wir begleiten die Geschwister, insbesondere das erzählende Mädchen, über 5 Jahre hinweg, eher in sprunghaften Schritten. Sie lässt sich recht zügig lesen und ist in viele teils sehr kurz gehaltene Kapitel unterteilt. Und in diese Kürze hat Dieudonné so viel Kraft und Dramatik hineingeschrieben, die den Leser extrem fesseln, aber auch an den Rand des Wahnsinns treiben. Zumindest ist es mir so ergangen. Der Plot hätte manches Mal gern ein bisschen ausführlicher sein können. Dann hätte es evt zwischendurch auch mal Ausruhphasen für den Leser gegeben ;-)  

Fazit: Brutale Gewalt in der Familie, traumatische Erlebnisse, ein extrem willensstarkes, kämpferisches Mädchen, dass zu einer jungen Frau heranwächst, ein kleiner Junge, bei dem sich das „Geschmeiß“ im Kopf von Tag zu Tag vermehrt und wie die Hyäne in Papas „Kadaverzimmer“ grausam lauert, eine willenlose Mutter – einer „Amöbe“ gleich… all das in diesem kleinen Buch vereint hat mich teils richtig fertiggemacht. Die Sprache ist meiner Meinung nach herausragend. Dennoch ein Buch, das ich nicht uneingeschränkt empfehlen würde. Dieser „Liebling des französischen Buchhandels“ ist enorm anstrengend, nicht zuletzt, weil er leider auch sehr realitätsnah ist.