Rezension

Brutalität südafrikanischen Alltags

Würde - Andrew Brown

Würde
von Andrew Brown

Bewertet mit 4.5 Sternen

Richard Calloway arbeitet als Anwalt für Strafrecht in Kapstadt. Wie viele Weiße ist er mit Frau und Kind wegen der zunehmenden Gewalt aus der Stadt in eine Gated Community am Stadtrand gezogen. Aus dem Gericht ins Büro, im Auto direkt in die bewachte Wohnanlage hinter stacheldrahtbewehrten Mauern – das ist Richards Leben. Schwarze kennt er als Hauspersonal, und neuerdings sucht seine Kanzlei aus Imagegründen einen schwarzen Anwalt als Quotenkollegen.

Richards Lebensunterhalt sichert zurzeit die Verteidigung eines einzigen einträglichen Klienten, des russischen Kriminellen Svritsky. Mit diesem Fall kann weder die Kanzlei an Ansehen gewinnen, noch kann Richard im Privatleben damit Eindruck machen. Als Svritsky Richard eine Prostituierte in einem Massagesalon empfiehlt, gerät der mit einer ihm bisher völlig fremden Welt in Kontakt. Abayomi ist mit ihrem Mann Ifasen aus politischen Gründen aus Nigeria geflüchtet, lebt mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Südafrika und muss ihren Lebensunterhalt verdienen. Verkürzt könnte man sagen, dass Religions- und Stammeskonflikte ihre Familie zerstört und sie aus ihrer Heimat vertrieben haben. Schon 2010, als Browns Roman erschien, hatte Südafrika eine Arbeitslosenquote von rund 25%.
Flüchtlinge in Südafrika sind unerwünschte Konkurrenten um Arbeit und Wohnung. Eine Frau wie Abayomi, geradeheraus und direkt, hat Richard noch nie getroffen. Er verliebt sich Hals über Kopf in die attraktive Nigerianerin. Als Ibasen verhaftet und des Drogenhandels verdächtigt wird, glaubt Richard noch immer an das Funktionieren des Rechtssystems, dem er dient. Mit dem naiven Wunsch zu helfen verstrickt Richard sich hoffnungslos in einem Geflecht aus Korruption und Rassismus, dem er kaum gewachsen ist – weil er selbst hinter sicheren Mauern lebt und nur wenig vom Leben draußen weiß.

Der Originaltitel "Refuge" lässt sich als Zuflucht übersetzen, Zuflucht, die Abayomi und Ifasen in Kapstadt suchen, die Abayomi für Richard sein könnte, oder die Illusion von Zuflucht in gesicherten Wohnanlagen. Mit dem Begriff Würde konnte ich weniger anfangen. Neben dem – nun auch für Europa – aktuellen Thema Flüchtlinge setzt sich Andrew Brown, im Privatleben selbst Anwalt, mit Schuld und Profit auseinander. Die Frage, wer sich im Laufe der Handlung schuldig macht und wer profitiert von den Verhältnissen, treibt die Handlung bis zum verblüffenden Schluss voran. „Würde“ könnte durchaus als schonungslos brutaler Justiz-Thriller durchgehen, doch dazu vereinnahmt die Beziehung zwischen Richard und Abayomi beim Lesen zu stark. Browne vermittelt seinen Lesern außerhalb Südafrikas auf höchst emotionale Weise einen winzigen Blick in die Brutalität des Alltags – und schickt sie wieder auf LOS zurück mit der Erkenntnis, noch immer kaum etwas von Afrika wissen.