Rezension

Charmanter Roadtrip

Anatol studiert das Leben - Susanne Falk

Anatol studiert das Leben
von Susanne Falk

Bewertet mit 5 Sternen

Pünktlich vor Toreschluß, d.h. Weihnachten, möchte ich noch den charmantesten und verrücktesten Roman des Jahres vorstellen. Wer also noch nach Geschenken sucht oder sich selbst eine Freude machen möchte, dem sei dieser wunderbare Roman ans Herz gelegt.
Anatol ist anders. Er hat Anschlußschwierigkeiten, einen Zähltick und weiß trotz intensiver Beobachtung nicht so richtig, wie Menschen eigentlich funktionieren. In seiner großen, lauten, warmherzigen Familie ist das kein Problem, aber im Umgang mit Fremden kommt es doch regelmäßig zu Unstimmigkeiten. Damit er menschliches Verhalten noch besser studieren kann, ist Anatol Museumswärter geworden: die Besucher betrachten die Bilder, Anatol betrachtet die Besucher. Bis sie eines Tages vor einem Chagall steht: Marcelline, Kunststudentin aus Nantes. Und Anatol entdeckt die Liebe. Kurzentschlossen packt er sich bei nächster sich bietender Gelegenheit den Chagall unter den Arm und macht sich auf den Weg nach Nantes. Zu Fuß. Ohne Geld. Ohne Jacke. Mit der Polizei auf den Fersen.
Der Roman ist vollgepackt mit Leben und unzähligen skurrilen Charakteren, allen voran Anatols Großmutter, einer gefeierten Burgschauspielerin mit Josef-Meinrad-Spleen. Eine völlig verrückte, komplett unglaubwürdige Geschichte, die aber so liebenswürdig ist, dass man sich wünscht, sie könne wahr sein. Anatol berührt die Menschen auf seinem Weg und er berührt dabei auch die Leser. Was mich allerdings am meisten beeindruckt hat, ist, wie geschickt Susanne Falk die Waage hält zwischen Skurrilität, Rührseligkeit, Romantik, Spannung, Drama und Abenteuer. Die Mischung ist nämlich genau richtig, kippt nie in ein Extrem und ist auch niemals zu abgedreht. Und sie ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Liebe, für Akzeptanz und gelebtes Anderssein. Weil "anders" eben meist nicht schlechter ist, sondern nur ein anderer Blickwinkel. Und andere Blickwinkel erweitern den Horizont. Ein wirklich ganz entzückender, vergnüglicher Roman mit einer riesigen Portion Warmherzigkeit. Ein Vorrat für kalte Zeiten.