Rezension

Coming-of-Age-Roman mit einem besonderen Hintergrund

Kein Teil der Welt - Stefanie de Velasco

Kein Teil der Welt
von Stefanie de Velasco

Bewertet mit 5 Sternen

Das Buch „Kein Teil der Welt“ von Stefanie de Velasco ist ein Coming-of-Age-Roman vor einem besonderen Hintergrund, denn die 16-jährige Protagonistin Esther gehört ebenso wie ihre Eltern der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Das Glaubenssystem der Gruppe lässt sie innerhalb unserer Welt in einem eigenen Kosmos leben.

Esther und ihre Eltern sind kurz nach der Wende in den Osten Deutschlands gezogen, wo die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft jetzt nicht mehr mit Verfolgung rechnen müssen. Ihre Gedanken kreisen um ihre Freundschaft mit Sulamith und die Ereignisse der letzten Wochen während sie noch in ihrer Heimat in einem fiktiven Ort im Rheinland wohnte. Esther erzählt als Ich-Erzählerin von dem engen Raum, der ihr als Jugendliche unter Gleichaltrigen gegeben wird. Stattdessen ist sie eingebunden in die Gewinnung neuer Mitglieder und der regelmäßigen Stärkung des Glaubens.

Stefanie de Velasco war bis im jugendlichen Alter selbst Teil der Gemeinschaft und erzählt daher mit Hintergrundwissen, was der Geschichte Authentizität verleiht. Esther erlebt die neue Stadt und die neue Schule und ließ mich als Leserin dabei an ihren widerstreitenden Gefühlen teilnehmen. Ein Zufall lässt sie erkennen, dass ihre Eltern sie in einer Familienangelegenheit belügen, was dazu beiträgt, dass sie zunehmend beginnt, die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Glaubens, aber auch anderer zu hinterfragen. Neben ihrer permanenten Angst vor dem Weltuntergang sind ihr auch die negativen Konsequenzen bewusst, die ein möglicher Gemeindeaustritt für sie mit sich bringen würde.

Oft gleiten ihre Gedanken wieder zu ihrer Freundin Sulamith, die in den vergangenen Monaten im Rheinland eine ähnliche Auseinandersetzung mit sich geführt hat und sich dadurch nicht nur glaubens- sondern auch gefühlsmäßig immer mehr von Esther entfernt hat. Deutlich ist zu spüren, dass Esther schwer an dem Ende dieser Freundschaft trägt. Die dahinterstehende Tragik gibt die Autorin erst mit und mit preis.

In einem Alter, in dem durch eigene Erfahrungen die Umwelt sich für Jugendliche immer mehr verständlich öffnet und sie nach dem Sinn im Leben zu suchen beginnen, versucht Esther dem um sie gestrickten Kokon zu entkommen. Der Roman wirft dabei die Frage auf, was wir brauchen, um uns geborgen und beschützt zu fühlen und dennoch uns selbst verwirklichen zu können. Zwischen den Kapiteln erzählt Stefanie de Velasco eine Sage über die Bedeutung von Salz, die im übertragenen Sinne des Werts einer angemessenen Lebensführung der Glaubensmitglieder zu verstehen ist.

Mit dem Roman „Kein Teil der Welt“ hat Stefanie de Velasco mir interessante Einblicke in eine mir weitgehend unbekannte Glaubensgemeinschaft gegeben. Einfühlsam und eindringlich schildert sie den Prozess der frühen Ablösung der 16-jährigen Esther vom Elternhaus, weil sie im Vergleich mit ihren Eltern konträre Vorstellungen vom Leben hat, die verbunden sind mit Esthers Suche nach ihrem eigenen Weg. Dabei versucht sie sich ihrer Wünsche bewusst zu werden und träumt davon, sie sich zu erfüllen. Mich hat die Erzählung sehr angesprochen und daher empfehle ich sie gerne weiter.