Rezension

Coming of Age zur Zeit der Mondlandung

Der Sommer meiner Mutter - Ulrich Woelk

Der Sommer meiner Mutter
von Ulrich Woelk

"Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben."

Mit diesem Satz beginnt das neue Buch von Ulrich Woelk, und damit sind schon einige Elemente des Buches eingeführt. Tobias wird in diesem Sommer elf Jahre alt; er ist fasziniert von der Raumfahrt und verfolgt voller Spannung die amerikanischen Apollo-Missionen. Er wächst behütet auf: Als Einzelkind in einer Familie, in der der Vater, ein Ingenieur, selbstverständlich den Ton angibt. Dann zieht eine Familie in das Nachbarhaus, die den Konventionen so gar nicht entspricht: Der Vater ist Philosophieprofessor und lehrt die Frankfurter Schule, die Mutter übersetzt amerikanische Kriminalromane und raucht, und da gibt es noch Rosa, die dreizehnjährige Tochter, benannt nach Rosa Luxemburg. Die Familien freunden sich an, es gibt Diskussionen über unterschiedliche Werte und Lebensentwürfe - und Rosa führt Tobi in eine ganz neue Welt ein...

Erzählt wird die Geschichte vom erwachsenen Tobias, der auf diesen ereignisreichen Sommer zurückblickt. Dabei gelingt es Woelk, die naive kindliche Sicht von Tobi heraufzubeschwören und gleichzeitig die etwas melancholische Erinnerung des Erwachsenen zu verdeutlichen. So viel wird in dem dünnen Roman angeschnitten: Das Leben Ende der 60er, auf der einen Seite die traditionelle paternalistische Weise, auf der anderen Seite der Aufbruch zu neuen Ideen. Konservatismus gegen neue, ja revolutionäre Ideen, Naturwissenschaften im Vergleich zu Geisteswissenschaften, Kommunismus, Emanzipation der Frau, freie Liebe - es waren Jahre des Umbruchs. Für Tobi zählen keine abstrakten Ideen, sondern seine erste Jeans, der Farbfernseher des Onkels, die verschiedenen Raumfahrtmissionen und natürlich seine ersten sexuellen Erfahrungen. Alles andere, was sich abspielt, geht noch über sein Begriffsvermögen hinaus, und so wird er auch zum ahnungslosen Katalysator, der letztendlich zum Selbstmord seiner Mutter führt und ihn aus der kindlichen Unschuld herausreißt.

Woelk beschreibt die Zeit aus eigener Erfahrung; hier wie auch in Tobis Faszination von der Raumfahrt spielen eigene Erlebnisse eine deutliche Rolle. Auch ich bin zu dieser Zeit aufgewachsen, und ich kenne das Klima des Konservativen, in dem neue Ideen als gefährlich abgelehnt werden. Auch als Coming-of-Age-Roman überzeugt mich die Geschichte; Tobi ist ein glaubwürdiger Charakter. Sehr gefallen hat mir auch der leise Humor: Sowohl Tobis als auch Rosas Vater reagieren trotz ihrer unterschiedlichen Weltanschauung doch sehr ähnlich auf die Schlüsselszene, die zur Katastrophe führt. 

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2019. Ich habe es mit Vergnügen und auch mit Wehmut gelesen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 27. September 2019 um 09:39

Es hat mir auch gut gefallen, obwohl ich es total übertrieben finde, dass die Mutter Suizid begeht. Das ist echter Quatsch mit Soße.

FIRIEL kommentierte am 14. Oktober 2019 um 19:32

Ach, das finde ich durchaus glaubwürdig. Bedenke, wie die Mutter erzogen und aufgewachsen ist - sich zu einer anderen Frau hingezogen zu fühlen bedeutete im besten Falle Krankheit, aber auf jeden Fall Abnormität und vielleicht sogar Kriminalität. Ich denke, die Mutter war von sich selbst, ihren Handlungen und Gefühlen überwältigt, völlig verunsichert und aus ihrem bisherigen Leben geworfen. Sehr stabil und glücklich wirkte sie ja auch vorher nicht. Dass eine solche Krise zum Selbstmord führen kann, halte ich schon für realistisch.