Rezension

Crisis? What Crisis?

Middle England - Jonathan Coe

Middle England
von Jonathan Coe

Bewertet mit 4 Sternen

So hieß eine LP der britischen Band Supertramp, die 1975 veröffentlicht wurde - zwei Jahre nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EU. Dass diese Mitgliedschaft vergleichsweise kurz währen würde, war damals noch nicht vorauszusehen. Und so wähnte sich Großbritannien zu Beginn der 2010er Jahre zwar schwach regiert, aber dass es schon wenige Jahre später den Brexit geben würde: das hat wohl keiner vorausgesehen.

Vor allem nicht diejenigen, die im multikulturellen London unterwegs sind, wo auch eine große Mehrheit für "Remain" stimmte. Der Autor Jonathan Coe richtet seinen Blick daher auf eine andere Region, nämlich auf Mittelengland und hier die Gegend in und um Birmingham - seine Heimat. 

Im Zentrum seines höchst unterhaltsamen und dabei klugen Romans steht die erweiterte Familie Trotter mitsamt Freunden und anderem Drumherum - ich möchte das Wort "Feinde" nicht unbedingt in den Mund nehmen. Benjamin Trotter verlässt London und zieht in eine alte Mühle, wo er sich als Schriftsteller versuchen will, seine Nichte Sophie, eine Wissenschaftlerin, nimmt sich vor, nur noch abseits ihres "Milieus" auf Partnersuche zu gehen und findet ihre große Liebe im Fahrlehrer Ian. Gleichzeitig begegnet sie in ihrer Schwiegermutter einem bislang nie gekannten Persönlichkeit: einer, die Vorurteile hat gegen alles, was ihr neu und unbekannt ist. So zum Beispiel gegen Sophie als Partnerin ihres Sohnes, aber auch gegen ihre litauische Haushaltshilfe Grete.

Der Roman führt uns durch die Jahre 2010 bis 2018 und es wird deutlich, dass es hier um Grundsätzliches geht - Sophie und ihr Mann Ian stehen bei der Abstimmung auf verschiedenen Seiten - ein Umstand, der nicht wenig zu ihrer Entfremdung voneinander beiträgt - auf einmal stehen sie vor dem aus.

Ein auf zurückhaltende Art sehr emotionaler Roman, in dem Jonathan Coe seine Landsleute schonungslos vorführt - so stellt der nach dem Brexit nach Frankreich umgesiedelte Benjamin erst nach vollzogenem "Break" mit seinem Heimatland fest, dass ihm zur Verwirklichung seiner Pläne im Ausland etwas ganz Entscheidendes fehlt - nämlich die Kenntnis der französischen Sprache.

Ein Roman, der mir manchmal Bauchschmerzen bereitete, den ich aber dennoch nicht aus der Hand legen mochte. Jetzt habe ich das Gefühl, ähnlich wie vor einigen Jahren bei der Lektüre von John Lanchesters "Kapital", den Briten ein wenig näher gekommen zu sein. Wobei ich befremdet bin wie nur was. Aber im Gegensatz zu vorher sind mir die Hintergründe, die Strukturen dazu nun wesentlich präsenter.

Auf jeden Fall ein lesenswertes, ein eindringliches Buch - eine literarische Dokumentation unserer Zeit.