Rezension

Damals- auf welcher Seite bist du gestanden?

Wenn wir wieder leben - Charlotte Roth

Wenn wir wieder leben
von Charlotte Roth

Bewertet mit 4.5 Sternen

Meine Meinung
In zwei Handlungssträngen verschmelzen nach und nach Gegenwart und Vergangenheit. In der Gegenwart lernen wir Wanda kennen. Eine freundliche, eher zurückhaltende, wohlbehütete junge Frau, die das Lieblingskind von Matti, wie sie ihre Mutter liebevoll nennt. Sie lebt zusammen mit ihren Schwestern und ihrer Tante Lore in Westberlin. Während des Studiums lernt sie den Studenten Andras kennen, der in ihr den Wunsch weckt zu erfahren, warum sie bisher nichts über ihre Vergangenheit und ihren Geburtsort in Polen weiß. Warum ist die Vergangenheit so ein blinder und totgeschwiegener Fleck in ihrer Familie? Es ist Anfang der 60er Jahre und das Ende des schrecklichen Krieges ist noch nicht so lange her. Welche Menschen, Freunde, Verwandte waren damals Freund und wer war Feind?

Die Vergangenheit beginnt 1927 und die Hauptrolle hat Gundi. Ein Mädchen, das zwar von ihrer eigenen Mutter weggegeben wurde aber das Glück hatte, bei ihrem geliebten “Pop”, dem Großvater, aufzuwachsen, denn er war ihr eine bessere Mutter. Gundi ist unzertrennlich mit dem Ostseebad Zoppot und Musik verbunden. Und ihre Freunde Julius, Erik und die Halbschwester Lore vervollständigen ihr großes Glück. Sie will leben, genießen, sich erfreuen und Musik machen. Und das alles in einer Endlosschleife. Doch die jugendlichen Freunde werden Erwachsen und die Zeiten werden düsterer. Die Jungs wurden zu Männern und wollten sich weiterentwickeln. Beide liebten Gundi und Gundi liebte alle. Selbst als alle begriffen hatten, dass ein Krieg sich anbahnt und dass Danzig sowohl von Polen als auch von Deutschland beansprucht werden würde, verschloss Gundi naiv die Augen, um ihren Traum vom schönen Leben nicht zerstört zu sehen.

Charlotte Roth hat mit diesem Roman eine wundervolle Erinnerung an die schönen und traumatischen Zeiten von Danzig und Zoppot geschaffen. Über Gundi spürt man die Liebe zur Musik, dem Meer und ihrer Heimat. Als Leser*in ist man mittendrin, als Menschen anfingen sich zu verändern. Als man nicht mehr Danziger oder einer aus Zoppot war, sondern Pole oder Deutscher oder noch schlimmer, polnischer Jude. Als Schilder, die Hunde vom Strand fernhalten sollten, um die Wörter “Juden und Polen” erweiterter wurden.

Die Autorin nahm sich sehr viel Zeit aufzuzeigen, dass es nicht immer leicht war, als irgendwann die Leute dazu gedrängt wurden sich zu entscheiden, sich für eine Seite zu entscheiden. Jeder musste an sich und seine Familie denken, ans überleben und abwägen, wie weit kann ich mitmachen und doch verheimlichen, dass ich nicht wirklich dazugehöre. Ab wann hatte man seine Seele der dunklen Seite verkauft? Konnte man durch gute Taten wieder Punkte auf der anderen Seite der Waagschale erhalten? Wie viel musste man dafür tun, um wiedergutzumachen? Etwas sein Leben opfern? Wo fängt Menschlichkeit an und wo hört sie auf?

Mit all diesen Fragen müssen sich Charlotte Roths Charaktere herumplagen und Entscheidungen treffen. Die, die sich eindeutig auf eine Seite geschlagen hatten gab es natürlich auch. Gefühlt war dies aber nicht die Mehrheit.

Beide Handlungsstränge sind mit tiefen Themen gespickt. Während es in der Vergangenheit darum ging, ob man zu Deutschland gehörte, mit Hitler sympathisierte, sich gegen alles wehrte oder irgendwo dazwischen stand, rückt in der Gegenwart der 60er Jahre die Aufarbeitung der Gräultaten, die in den Konzentrationslagern geschehen waren, in den Vordergrund. Wandas Freund Andras bereitet Unterlagen und Zeugenaussagen vor, die aufzeigen sollen, was alles in Auschwitz passiert war und wer die Täter waren. Eine sehr schwere Aufgabe, die große emotionale Stärke von ihm forderte, um daran nicht kaputtzugehen.

Ich habe durch dieses Buch sehr viel gelernt. Auch war mir bis dato das Schiff “Die Wilhelm Gustloff” kein Begriff. Es war sehr interesant zu erfahren, dass dieser Urlaubsdampfer, auf dem Gundi und die Band spielten und ihr Leben genossen, bereits 1938 für den Krieg ausgestattet worden ist, der 1939 dann in Polen seinen Ursprung nahm.

Der Schreibstil der Autorin ist auch in diesem Buch wiederzuerkennen. Schöne Geschichte, ganz ausgeklügelt miteinander verbundene Handlungsstränge auf verschiedenen Zeitebenen und mit einem überraschenden Geheimnis und grandiosem Ende.

Einen klitze kleinen Abzug habe ich für die vielen Kosenamen und Verniedlichungen gegeben, die mir über das ganze Buch hinweg etwas zu viel waren. Im mittleren Teil hätte ein kleines Bisschen gestrafft werden können. Doch es war nicht richtig störend, sodass ich dies nicht sehr gewichtig bewertet habe.

Fazit
Ein Buch, das den Finger in ganz alte und immer noch schmerzende Wunden sticht. Das den*die Leser*in #GegenDasVergessen nach Polen führt und viele Grautöne in die übliche Schwarz-Weiß-Malerei bringt. Durch Gewissensfragen kann sich jeder selbst prüfen und seine Vorurteile überdenken. Alles in allem meisterhaft gelungen! Absolute Leseempfehlung!