Rezension

Das bessere Leben - oder doch nicht?

Das Herz kommt zuletzt - Margaret Atwood

Das Herz kommt zuletzt
von Margaret Atwood

Bewertet mit 3.5 Sternen

Wer wohnt schon gern in seinem Auto? Zumal, wenn marodierende Banden die Stadt beherrschen? Stan und Charmaine, ein nettes, normales Paar, durch die Wirtschaftskrise in Not geraten, werden immer verzweifelter. Eine Anzeige verspricht Rettung: das Positron Project, ein »soziales Experiment«, verspricht ein Leben in Sicherheit und geregelten Verhältnissen. Hastig unterschreiben sie, obwohl die Bedingungen eigenwillig sind - alle Bewohner der streng abgeschiedenen Stadt Consilience wechseln im Monatsturnus zwischen dem Status eines Gefangenen und dem eines Freien. Zunächst läuft alles bestens - auch wenn Charmaine und Stan, ohne dass der jeweils andere davon weiß, eine sexuelle Obsession für ihre Hauspartner entwickeln - also jene Leute, die ihr schmuckes Heim bewohnen, wenn sie selbst ihren Gefängnismonat absolvieren. Doch dann finden sich Charmaine und Stan durch einen »Buchungsfehler« in verschiedenen Zyklen wieder, und bald ist viel mehr gefährdet als nur ihre Ehe. (Verlagsseite)

Margaret Atwood ist eine äußerst vielseitige Autorin und in mehreren Genres zuhause, zu denen auch die dystopische Romane gehört wie der bereits 1985 geschriebene „Der Report der Magd“ oder die ab 2003 erschienene „Oryx und Crake“-Trilogie. Hier reiht sich dieses Buch ein.

Hintergrund für die verzweifelte Lage der Protagonisten ist eine Finanzkrise wie die von 2007, als die Immobilienblase platzte. Ebenso wie viele andere verlieren Stan und Charmaine ihre gut bezahlte und sichere Arbeit und dann ihr Haus. Das, was von ihrer Habe übrig bleibt, passt in ein Auto, in dem sie fortan leben und schlafen. Sie ernähren sich von dem Wenigen, das Charmaine in einer heruntergekommenen Spelunke verdient. Außerdem setzen sie sich der Gefahr durch umherirrende Banden aus und müssen mehrmals in der Nacht den Stellplatz wechseln.

Atwood erzeugt mit diesem Szenarium ein Gefühl ständiger Bedrohung. Nichts scheint mehr sicher, es gibt keine Kontrollen mehr, jeder ist Freiwild, und keiner ist für irgendetwas verantwortlich. Irgendwohin haben sich die Gewinner des Zusammenbruchs zurückgezogen, wo ein geregeltes Leben und Friede möglich sind, vorausgesetzt, man besitzt das nötige Geld.

Dass Stan und Charmaine für ein Versprechen auf ein besseres Leben alle Skepsis und jeden Zweifel beiseite wischen, versteht der Leser gut. Auch wenn er ahnt, dass bei dem sogenannten Consilience-Projekt etwas faul ist, und nicht ganz nachvollziehen kann, warum die Mitglieder je einen Monat ein sorgenfreies Leben in einem eigenen Haus mit guten Arbeitsstellen und den nächsten Monat im Gefängnis verbringen müssen, geht er mit der Entscheidung der beiden konform: Schlimmer als auf der Straße kann es nirgendwo sein. Die Autorin bindet den Leser eng an ihre Protagonisten; es erleichtert, die beiden in Sicherheit zu wissen.

Die ersten Risse bekommt diese Bindung, wenn er von Charmaines Arbeit erfährt: Nein, hier läuft irgendetwas gehörig schief. Was hier geschieht, widerspricht der Menschlichkeit. Dann aber passiert etwas Unerwartetes, und das Paar gerät ins Visier einer höheren Institution.

Bis dahin hat man einen spannenden Roman gelesen, in dessen Handlung sich Fragen nach Freiheit und Sicherheit, Bedürfnis und Gehorsam verbergen.
Nach der Hälfte des Buches wird die Handlung chaotischer, es geht an zwei Fronten, Stans und Charmaines, hektisch zu, die Abläufe überstürzen sich. Gleichzeitig geht die Sympathie des Lesers verloren. Charmaine erweist sich als naives Dummchen, Mitleid für sie ist unangebracht. Stan mutiert zum Held-wider-Willen. Beide scheinen im Mittelpunkt einer Revolte zu stehen, die sie im Grunde nicht interessiert. Die Spannung wird jetzt von Nebenfiguren getragen und der Frage, ob sie zuverlässig sind oder ein falsches Spiel treiben.
Im Großen und Ganzen trudelt die Geschichte konzeptlos vor sich hin. Der Thrill bleibt an der Oberfläche; die Atmosphäre der Beklemmung, wie man sie in „Der Report der Magd“ eindringlich kennen lernte, wird in diesem Buch leider nicht durchgehalten, im Gegenteil, einige Szenen erscheinen – gewollt oder ungewollt – eher komisch als bedrohlich.

Am Ende des Buches zeigt Atwood wieder ihre Schlitzohrigkeit: Happy End oder nicht? Und wenn Happy – was ist denn Happy? Der Leser klappt das Buch nicht ganz zufrieden zu und weiß es nicht.