Rezension

Das Bewahren von Dingen

Der Distelfink
von Donna Tartt

Überwältigung“

emotional, sinnlich, total, visuell, ästhetisch -

 

Das sind die Verbindungen, die das digitale Wörterbuch als Ergänzung zum Wort „Überwältigung“ liefert.

Und das trifft auf „Der Distelfink“ in hohem Maße zu.

Der Roman überwältigt im positivsten Sinne, emotional, visuell, total!

 

Die Schriftstellerin, die dieses überwältigende Werk geschaffen hat, ist Donna Tartt.

Donna Tartt, Jahrgang 1963, erweist sich mit ihrem erst dritten Roman als eine Großmeisterin im Geiste von Charles Dickens oder Victor Hugo.

Überbordende Phantasie, gepaart mit beeindruckender Charakterzeichnung der Protagonisten und mitreißender, philosophischer, Recherche - intensiver Geschichte. 

Kurz, ein Roman, der Leser wie Kritiker gleichermaßen begeistert.

 

Theo Decker verliert im Alter von 13 Jahren, bei einem Terroranschlag im Metropolitan Museum in New York seine über alles geliebte Mutter.

In den Wirren des Anschlags, den er schwer traumatisiert überlebt, lässt er das berühmte Gemälde „Der Distelfink“ von Carel Fabricius aus dem Jahre 1654 mitgehen.

Das Gemälde wird zum Dreh - und Angelpunkt seines Lebens und manches Mal droht Theo an dessen unrechtmäßigen Besitz zu zerbrechen.

 

Dieses Buch ist ein Bildungsroman mit psychologischen Thriller- Elementen und Donna Tartt erschafft neben Theo unvergessliche Protagonisten, wie die dysfunktionale Familie Barbour oder Theos Freund Boris.

Keine der Figuren ist nur gut oder böse, denn die ganze Palette menschlicher Tugenden und Fehler ist in ihnen manifestiert.

„Wir können uns unser eigenes Herz nicht aussuchen. Wir können uns nicht zwingen zu wollen, was gut für uns oder gut für andere ist. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind.“

Nie erhebt Tartt den Finger um zu moralisieren, aber immer spürt man die enorme Kraft der Empathie.

Empathie für Menschen, Tiere und ganz besonders für Kunstwerke.

Der altruistische Kern der Erzählung ist das Bewahren von Dingen, die den Menschen über Jahrhunderte etwas bedeuten.

Kunst, Literatur, Musik.

Den Dingen eine Bedeutung geben, bzw. wiedergeben, das scheint ein großes Anliegen Donna Tartts zu sein.

Vielleicht ist es dieser Aspekt, der mich besonders berührt an diesem Meisterwerk.

 

Auch die Liebe zu Objekten kann uns zu besseren Menschen machen. Durch die Liebe gewinnen diese Objekte ein Leben.

Der Respekt für die Kreativität der Menschen, die vor langer Zeit diese Objekte erschaffen haben, sollte uns wieder zueigen werden.

 

Theo verbindet mit dem kleinen Distelfink die unsterbliche Liebe zu seiner Mutter. Er bewahrt das Bild und seine Liebe.

Das ist es, was Erinnerungsstücke sind, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft.

 

Theo und der kleine Fink aus Fabricius Gemälde sind beide Gefangene.

„Und bei diesem strammen kleinen Porträt ist es nicht schwer, das Menschliche in dem Finken zu sehen. Würdevoll, verwundbar.

Ein Gefangener, der einen anderen anschaut.“

 

Donna Tartts überwältigender Roman erzählt auch von deren Befreiung.