Rezension

Das Ende der Welt - oder das Ende der Menschlichkeit?

Darkiss - Herrscher der Gezeiten - Nichola Reilly

Darkiss - Herrscher der Gezeiten
von Nichola Reilly

Bewertet mit 4 Sternen

Im Jahr 2046 kam die große Flut. Der Meeresspiegel stieg und stieg, bis alle großen Landmassen überflutet waren - der Tod fast aller Menschen.  

Unzählige Generationen später, auf der winzigen Insel Tides, der das Meer mit jeder Flut mehr Land raubt:
Die 496 Menschen, die noch übrig sind, leben beinahe klaustrophobisch zusammengepfercht. Dennoch halten sie nicht zusammen. Jeder kämpft für sich allein. Zuneigung, Liebe? Gibt es nicht mehr. Und mit Mitgefühl darf auch niemand rechnen: wird jemand schwer verletzt, wird er einfach ins Meer geworfen, wo ihn die fleischfressenden "Kritzler" in Stücke reißen. 

Man vertraut sich nicht, man hilft sich nicht. Mit jeder Generation geht mehr verloren, was einen Mensch erst zum Menschen macht, und das ist eine größere Katastrophe als die erbarmungslose Flut, denn zurück bleibt nur noch eine freudlose, kalte Welt. 

Coe, die Hauptfigur, hat in dieser Gesellschaft einen besonders schweren Stand, denn sie hat eine Behinderung; als sie noch ganz klein war, hat ein Kritzler ihr die Hand abgerissen. Deswegen wird ihr die Arbeit übertragen, die sonst niemand will: sie muss Tag für Tag die Gemeinschaftstoilette reinigen, und da sie deswegen bestialisch stinkt, wird sie beschimpft und lächerlich gemacht. 

Bemerkenswert fand ich, dass Coe sich ihre Gefühle bewahrt hat, die im Laufe der Geschichte mehr und mehr aufblühen. Sie hat verständlicherweise wenig Selbstbewusstsein, stellt sich aber dennoch als mutig und entschlossen heraus, und als loyal gegenüber den Menschen, die sie liebt. 

Tiam ist der Junge, der seit jeher neben ihr steht, auf der Plattform, auf die sich die Menschen bei Flut flüchten. Er fällt auf durch seinen Optimismus und seinen Humor, und er macht sich viele Gedanken darüber, wie sich das Leben der Bewohner von Tides verbessern ließe. 

In dieser abgestumpften Welt sind Coe und Tiam scheinbar die letzten Menschen, die noch keine Gefühlszombies sind, und gerade deswegen waren sie für mich großartige Protagonisten. 

Das Buch lässt sich viel Zeit damit, Atmosphäre aufzubauen und dem Leser diese Welt vorzustellen. Dennoch habe ich mich kein bisschen gelangweilt sondern es wirklich genossen, auch wenn sich die Spannung nur langsam entwickelt. 

Der Schreibstil ist eindringlich und spricht alle Sinne an. Man kann als Leser fast schon das Salz auf den Lippen schmecken und den Wind im Haar spüren! Die Autorin erzeugt mit malerischen Worten die dichte, düstere Atmosphäre einer kleinen Welt, die am Abgrund steht.

Diese bietet einen denkbar schlechten Nährboden für Romantik, aber dennoch verliebt sich Coe in Tiam. Die beiden müssen quasi neu entdecken, wie das eigentlich geht, sich mögen, und das hatte etwas herzzerreißend Romantisches... 

Einer meiner größten Kritikpunkte war die Plausibilität. Die Menschen leben und leiden schon seit unzähligen Generationen auf der immer kleiner werdenden Insel Tides - aber sie scheinen nur wenige Strategien entwickelt zu haben für das Leben dort. 

So gewinnen sie ihr Trinkwasser zum Beispiel ausschließlich über Regenwasser, so dass sie oft beinahe verdursten, wenn es länger nicht geregnet hat... Aber man weiß doch heute schon, dass man Meerwasser erhitzen und den Dampf auffangen kann, um das Salz herauszufiltern. Würde dieses Wissen wirklich verloren gehen in einer Gesellschaft, in der solches Wissen lebenswichtig ist? 

Es gab viele Dinge, wo ich mir dachte: Was? Das kann doch nicht, das funktioniert doch nicht, wieso denn das, müsste das nicht...? Irgendwann habe ich beschlossen, die Dinge einfach hinzunehmen, aber ich hatte öfter den Eindruck, dass die Autorin ihre Welt nicht bis in kleinste Detail durchdacht hat. 

Fazit:
496 Menschen klammern sich ans Leben auf der kleinen Insel Tides, aber das Ende ist nahe. Mitgefühl und Zuneigung sind nur noch fatale Schwächen. Die junge Coe, die aufgrund einer Behinderung als nutzlose Last angesehen wird, und Tiam, der zukünftige König dieser kleinen Welt am Abgrund, finden sich gemeinsam im Zentrum eines Aufstandes wieder, der das Ende bedeuten könnte - oder einen neuen Anfang. 

Für mich war das Buch originell und interessant, auch wenn die Spannung sich eher langsam entwickelt. Die Charaktere fand ich wunderbar, den Schreibstil hervorragend, und obwohl manche Dinge für mich nicht glaubhaft waren, habe ich das Buch doch sehr gerne gelesen.